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„Wir feiern 175 Jahre Nächstenliebe"

Der Verein für Innere Mission Frankfurt feiert in diesem Jahr sein 175. Jubiläum – und blickt auf eine bewegte Geschichte als erster evangelischer Sozialverband zurück.

Holger Hothum und Clarissa Graz von der „Inneren Mission“ in der Bembelstubb des Hufelandhauses. | Foto: Rolf Oeser
Holger Hothum und Clarissa Graz von der „Inneren Mission“ in der Bembelstubb des Hufelandhauses. | Foto: Rolf Oeser

Als Johann Hinrich Wichern beim ersten Evangelischen Kirchentag 1848 eine Stegreifrede zur sozialen Lage der Menschen im Deutschen Kaiserreich hielt, konnte er noch nicht wissen, was er da ins Rollen brachte. Der pietistische Theologe und Gefängnisreformer, der auch gern gegen die aufkommende Arbeiter:innenbewegung wetterte, ging als Gründer des ersten kirchlichen Sozialträgers in die Geschichte ein. Es war die Geburtsstunde der „Inneren Mission“, aus deren Wurzeln sich auch später die Diakonischen Werke entwickelten. In den Jahren nach 1848 gründeten sich in vielen deutschen Städten örtliche Vereine für Innere Mission, so auch 1850 in Frankfurt.

Wenn heute, im Herbst 2025, im Beratungszentrum Tamara am Alfred-Brehm-Platz in Frankfurt am Main Prostituierte ermutigt werden, einen „Plan B“ für ihr Leben zu entwickeln oder sich im Hufelandhaus im Stadtteil Seckbach ältere Menschen zum gemeinsamen Fußballschauen in der hauseigenen „Bembelstubb“ treffen, hat das auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun – auf den zweiten allerdings eine ganze Menge. Beide Einrichtungen gehören wie auch 36 weitere im Rhein-Main-Gebiet zur Inneren Mission Frankfurt, bis heute einer der großen sozialen Träger der Region. Dabei scheint der Name weniger bekannt als die einzelnen Einrichtungen, zu denen auch der Ambulante Pflegedienst KONTAKT in Bornheim oder das Howard-Philipps-Haus der Wohnsitzlosenhilfe im Nordend gehören. „Ja, wir haben uns bewusst dafür entschieden, dass die Einrichtungen im Vordergrund stehen und der Träger, bei dem alles zusammengehalten wird, eher im Hintergrund“, sagt Holger Hothum, kaufmännischer Vorstand der Inneren Mission Frankfurt. Wäre denn ein solcher Name heutzutage überhaupt noch anschlussfähig, nicht gar missverständlich? „Die Innere Mission wurde damals als Gegenstück zur Äußeren Mission, also der Weiterverbreitung des christlichen Glaubens in aller Welt, formuliert. Wobei ‚Mission‚ inzwischen eher als ‚Auftrag‚ zu verstehen ist. 175 Jahre Nächstenliebe, ich denke, das ist ein anschlussfähiger Claim“: So formuliert es Clarissa Graz, Pfarrerin und theologische Vorständin.

Ums Missionieren geht es längst nicht mehr, der frühere Pietismus ist einer pragmatischen Weltoffenheit gewichen. „Wir sind für alle Glaubensrichtungen offen, allein schon deswegen, weil wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus 70 Nationen haben, mit ganz unterschiedlichen religiösen Bekenntnissen, Lebensgeschichten und Kulturen“, sagt Holger Hothum.

Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs verlagerte sich der Schwerpunkt zunehmend auf die stationäre Betreuung und Pflege älterer Menschen, während zuvor auch eine Weile die Bahnhofsmission von der Inneren Mission getragen wurde. In den 1970er und 1980er Jahren weitete sich das Angebot weiter aus: Es kamen neue Dienste hinzu, wie die Arbeit mit Drogen- und Aidspatient:innen. Heute beschäftigt der Frankfurter Verein für Innere Mission etwa 1.200 Mitarbeitende in stationären und ambulanten Diensten. Er bietet ein breites Spektrum sozialer Leistungen an: Altenhilfe, Behindertenhilfe, Kinder- und Jugendhilfe, Suchthilfe, Wohnungslosenhilfe, Ausbildung und Bildung.

Am Samstag, 22. November, gibt es zum Jubiläum einen Gottesdienst in der Alten Nikolaikirche am Römerberg, bei dem Kirchenpräsidentin Christiane Tietz die Predigt hält, und anschließend eine Akademische Feier in die Evangelische Akademie. Das Jubiläumslied hat Markus Kneisel geschrieben, der zuletzt Leiter des Personalwesens der Inneren Mission Frankfurt gewesen ist: „Ob du weiblich oder männlich oder divers, egal, ob du queer bist oder hetero, ist nicht phänomenal. Jeder Mensch ist doch einmalig, was zählt, ist die Person, das achten und erleben wir als großen Wert der Inneren Mission!“ Eindeutig ein Wertewandel im Vergleich zu Johann Hinrich Wicherns Zeiten.


Autorin

Anne Lemhöfer 155 Artikel

Anne Lemhöfer interessiert sich als Journalistin und Autorin vor allem für die Themen Kultur, Freizeit und Gesellschaft: www.annelemhoefer.de

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