Leben & Alltag

Die Entfremdung

Es war eine Freundschaft fürs Leben, dachte sie. Doch dann war da plötzlich eine Distanz. Eine leichte Verschiebung, ohne richtigen Grund. Aber die alte Vertrautheit und Selbstverständlichkeit war weg. Was tun?

Foto: Andrej Lisakov / Unsplash
Foto: Andrej Lisakov / Unsplash

Wie und wann es begonnen hatte, konnte sie gar nicht mehr sagen. Eigentlich war es eine Lebensfreundschaft. Sie kannten sich aus Schulzeiten, blieben während des Studiums an den unterschiedlichsten Orten in Kontakt. Wenn sie sich trafen, zwei, drei, vier Mal im Jahr, war es regelmäßig ohne jeden Anlauf, so als wäre kein Tag dazwischen vergangen. Bei aller räumlichen Distanz waren sie sich nah, auf eine selbstverständliche Weise, über die man keine großen Worte machen muss. Schließlich traf man sich dann in Berlin wieder, am selben Wohnort vereint. Sie war bei seiner Hochzeit dabei, natürlich, so wie er bei ihrer. Examen, ihre Promotion, die Geburt seiner Kinder, alles geteilt.

Vor Jahren ist sie dann zurückgezogen in die Heimat, zurück nach Rhein-Main. Der Abschied von Berlin fiel schwer, von der Stadt, den Freundinnen, und nicht zuletzt von ihm, dem Irgendwie-doch-immer-besten-Freund. Aber räumliche Distanz kannten sie ja. Kein Problem, oder?

Doch irgendwie wurde der Kontakt danach dünner, der Austausch flacher. Unterschiedliche Lebenswelten, okay, die eine oder andere unterschiedliche Ansicht – die Pandemie, die politische Entwicklung insgesamt. Da war kein Streit, kein offener Bruch, eher eine leise wechselseitige Entfremdung. Es gab durchaus Versuche, Anläufe, von beiden Seiten. Aber dann war da der Alltag, viel zu tun, melde mich später, wie das halt so ist.

Vor einem Jahr dann die Nachricht, überraschend: Auch er zieht zurück in die alte Heimat! Sie freut sich. Endlich wieder räumliche Nähe, kurze Wege, da müsste doch alles wieder werden, so wie früher eben!

Wurde es nicht. Irgendeine leichte Verschiebung gab es da, wie unsichtbar. Aber eben doch da. Eine Distanz. Die alte Selbstverständlichkeit, sie war weg.

Anfangs unternahm sie noch Anläufe. Meldete sich, rief an, schickte kurze Textnachrichten, in denen sie vorschlug, sich zu treffen. Doch die Resonanz war gering. Heute nicht, sorry, vielleicht nächstes Mal. Sie fand das frustrierend und ärgerlich. Irgendwann wurde die Enttäuschung zu groß. Sie schrieb nun auch keine Nachrichten mehr. Eine Freundschaft – die Freundschaft – war sie am Ende?

Dass eine Freundschaft sich verliert, und man weiß gar nicht so genau, wie und warum eigentlich, ist nicht selten. Es kommt auch zwischen Geschwistern vor, zwischen Kindern und Eltern, in Partnerschaften, am Arbeitsplatz, mit den Nachbar:innen. Eine ehemals enge, wichtige Beziehung verkeilt sich unmerklich. Was vorher offen war, ist nun wie verstellt, ausweichend, und ohne echten Kontakt.

Das geht nicht nur im Privaten so. Auch gesellschaftlich scheinen die Fronten härter zu werden, das zwischenmenschliche Schweigen wird lauter, und vor allem in den so genannten „sozialen Medien“ wird mehr übereinander als miteinander gesprochen. Der Unfriede kommt nicht plötzlich, mit einem lauten Knall, sondern nistet sich schleichend ein, ohne eindeutige Ursache. Aber irgendwann stellt man fest: Überall ist Konflikt, Ärger und Frustration.

Was tun?

Aus irgendeinem schon vergessenen Anlass nimmt sie schließlich doch noch einmal Kontakt auf mit dem alten Freund. Bei diesem Mal ist sie klarer, macht ihrem Ärger Luft, spricht ihn direkt an.

Eine Pause. Und dann kommt seine Antwort.

Er schreibt, dass es ihm leidtue. Dass er schlicht nicht hinterherkomme, mit der Arbeit, der Familie, der Zeit, mit allem. Dass er unterschätzt hat, was es auch emotional bedeutet, zurückzukehren. Der Kontakt zu den Eltern, den Freunden von damals. Die Erwartungshaltungen. Die Kraft, die es kostet, nochmal einen Neuanfang zu machen, nochmal in eine neue Stadt zu ziehen, auch wenn es eigentlich ja die alte ist. Er bittet um Nachsicht, um Verständnis: Ob sie sich denn nicht erinnere, wie das damals bei ihr war, diese Aufbrüche, das Ankommen?

Die Nachricht ist nicht kurz. Und vor allem: Sie ist offen und persönlich. Versteckt nichts von der Anstrengung, den Schuldgefühlen. Spricht auch die Bitte klar aus, nachsichtig zu sein. Nicht so scharf im Urteil. Schau mich doch an, alte Freundin, meine Situation: Ich meine es nicht böse oder krumm.

Und es löst alles in ihr. Sie lässt es kurz sacken. Und schreibt ihm dann direkt zurück: Danke, dass du dich zeigst. Danke, das verstehe ich. Lass es uns versuchen, anders, erstmal leichter vielleicht. Aber doch, lass uns bitte schauen, wie es gehen kann mit dem Kontakt. Du fehlst mir, als Freund.


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Lars Heinemann 13 Artikel

Lars Heinemann ist Pfarrer in der Gemeinde Frankfurt-Bornheim und Mitglied in der Redaktion des EFO-Magazins. | Foto: Rolf Oeser

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