Leben & Alltag

Die Kunst, mit der Endlichkeit zu leben

Der Tod ist eine Herausforderung. Vielen Menschen macht er Angst. Manche hoffen gar, ihn irgendwann mit Hilfe von Technologie zu überwinden. Dabei ist es gerade die Endlichkeit, die das Leben kostbar macht.

Der Tod ist eine Herausforderung. Vielen Menschen macht  er Angst. Manche hoffen gar, ihn irgendwann mit Hilfe  von Technologie zu überwinden. Dabei ist es gerade die  Endlichkeit, die das Leben kostbar macht. | Foto: Sergej Sokolov / Unsplash
Der Tod ist eine Herausforderung. Vielen Menschen macht er Angst. Manche hoffen gar, ihn irgendwann mit Hilfe von Technologie zu überwinden. Dabei ist es gerade die Endlichkeit, die das Leben kostbar macht. | Foto: Sergej Sokolov / Unsplash

Stell dir vor, du sitzt mit einem Freund auf einem Steg und schaust über das Wasser in die Weite. Plötzlich geht dir durch den Kopf und über die Lippen: „Eines Tages werden wir alle sterben!„ Ziemlich deprimierend, oder? Aber dann antwortet der Freund ganz trocken: „Ja, das stimmt. Aber an allen anderen Tagen nicht."

Die kleine Szene zwischen Charlie Brown und Snoopy bringt etwas Wichtiges auf den Punkt: Wir denken viel zu oft an den Tod – und viel zu wenig an das, was eigentlich unser ganzes Leben prägt: unsere Endlichkeit.

Moment mal – Tod und Endlichkeit, ist das nicht dasselbe?

Überhaupt nicht! Der Tod ist ein einmaliges Ereignis am Ende unseres Lebens. Die Endlichkeit dagegen klopft jeden Tag an unsere Tür, mal leise, mal ziemlich laut.

Bei durchschnittlicher Lebenserwartung verbringt man als Mitteleuropäer:in ungefähr 30.000 Tage auf diesem Planeten – und nur an einem einzigen davon muss man sterben. Endlichkeit prägt dagegen an 29.999 Tagen unser Leben. Und das in dreierlei Hinsicht.

Gerade war man noch ein Kind, dann erwachsen, jetzt schon beinahe alt. Die Zeit rast an einem vorbei. Jeder Moment, den wir erleben, ist schon im nächsten Augenblick Vergangenheit. Vergänglichkeit betrifft nicht nur das Lebensende, sondern den gesamten Lebensweg zwischen Anfang und Ende, Geburt und Tod – jeder einzelne Lebensschritt ist endlich im Sinne von vergänglich.

Mit Psalm 90 in Martin Luthers Übersetzung: „Gott, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden." Klingt düster? Ist es aber nicht! Es hilft, zu verstehen, dass unser Leben wertvoll ist, gerade weil es nicht ewig dauert. Vergänglichkeit macht jeden Moment zugleich kostbar.

Mit der zweiten Hinsicht wird es frustrierend. Man lernt monatelang Spanisch – und vergisst die Hälfte wieder. Investiert alles in eine Beziehung oder eine Freundschaft – und sie geht trotzdem in die Brüche. Arbeitet wochenlang an einem Projekt – und es wird gecancelt.

Das alles hat nichts mit Schuld oder mangelnder Geschicklichkeit, Intelligenz oder Lebenserfahrung zu tun. Dass der Ertrag hinter dem Einsatz zurückbleibt, dass unser Handeln – nicht nur, aber immer auch – vergeblich ist, gehört zum Leben im Hier und Jetzt dazu. Diese Vergeblichkeit nagt am Sinn all dessen, was wir tagtäglich tun.

Kein Wunder, dass Burn-out ein Volksleiden ist: Man spürt regelmäßig die Anstrengung, mit der Vergeblichkeit des Lebens konfrontiert zu sein.

Die dritte Hinsicht ist vielleicht die gemeinste: Wir wollen das Gute und Richtige, können aber nie zu 100 Prozent sicher sein, was das konkret bedeutet. Soll ich den Job wechseln oder nicht? Ist es besser, mir heute Abend Zeit für mich zu nehmen oder Freunde zu treffen? Welche politische Partei verdient meine Stimme? Bei jeder Entscheidung tappt man teilweise im Dunkeln.

Das liegt nicht daran, dass man dumm ist – es liegt daran, dass wir endliche Wesen sind: Man kommt gewissermaßen nie an den Punkt, an dem man eine Situation ohne Informationslücken wirklich einschätzen kann. Ich kann mir zwar ein Bild vom wahrhaft Guten und Richtigen machen und mich im besten Fall davon leiten lassen. Trotzdem bleibt notwendig eine Lücke, weil ich mit meiner endlichen Zeit und meinen unvollkommenen Möglichkeiten jenes Ideal nie erreichen kann. Endlichkeit äußert sich so im Grunde als ständige Überforderung – und zwar gerade dann, wenn man alles richtig machen möchte.

Die Welt unter dem Vorzeichen der Endlichkeit ist also kompliziert. Sie ist zweideutig, ambivalent und immer wieder richtiggehend überfordernd. Wir leben „jenseits von Eden„, das heißt, unter Bedingungen, die nicht einfach paradiesisch sind.

Das Ganze hat eine positive Rückseite. Denn wenn man das mit der Endlichkeit versteht und akzeptiert, wird klar, dass Scheitern normal ist und Unsicherheiten dazugehören. Endlichkeit ist dann weit mehr als der Tod: Sie fordert uns jeden Tag heraus, bewusster zu leben und gnädiger mit uns selbst umzugehen.

Doch es bleibt ein Schmerz, die Sehnsucht nach einem Leben, das nicht von Vergeblichkeit und Vergänglichkeit gekennzeichnet ist. Diese Sehnsucht nach einer anderen Welt ist es, die in den traditionellen christlichen Bildern von Erlösungsbedürftigkeit und Heil zum Ausdruck kommt.


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Lars Heinemann 12 Artikel

Lars Heinemann ist Pfarrer in der Gemeinde Frankfurt-Bornheim und Mitglied in der Redaktion des EFO-Magazins. | Foto: Rolf Oeser

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