Leben & Alltag

"Eine tiefe Kontinuität, die mir Halt gab"

Vor einem Jahr bekam unsere Autorin einen Sauerteig geschenkt, kurz darauf starb ihre Mutter. Hier erzählt sie, wie sie das Brotbacken im Trauerprozess begleitet hat.

Foto: Silke Kirch
Foto: Silke Kirch

Dezember 2024, vor einem Jahr: Am kürzesten Tag des Jahres traf der Starter bei mir ein, es war der Samstag vor dem vierten Advent. Der Starter: ein kleines Glas mit Schraubdeckel, darin etwas Sauerteig, auf meinen Wunsch mitgebracht von meinem Sohn, der schon seit Langem sein Brot selbst backt. Nun wollte auch ich es versuchen.

Kurz nach Ankunft wurde der Starter gefüttert. Ich lernte, Mehl und Wasser im richtigen Verhältnis zu vermischen und mengte den Brei dem Inhalt im Glas bei. Dann stand die Gärung auf dem Tisch in der unbeheizten Küche. Optimale Raumtemperatur, wie ich erfuhr.

Als wir am Abend das Haus für eine Essenseinladung bei Freunden verließen, warf der Starter bereits Blasen. Auf dem Weg erfuhr ich alles über das Brotbacken: über Ingredienzen, Walktechniken, Gärzeiten und Umweltbedingungen. Am nächsten Tag wollten wir den Teig ansetzen. Ich fühlte mich etwas überfordert, hatte aber auch im Bewusstsein, dass Brotbacken keine Sache ist, die einfach nach Rezept funktioniert, sondern viel Übung und Erfahrung braucht. Jede:r Einzelne findet eine eigene Weise.

Dann, mitten in der Nacht, während wir auf dem Nachhauseweg an der Straßenbahnhaltestelle standen in dieser längsten Nacht des Jahres, starb meine Mutter. Und wir wussten es nicht, standen in blinder Nacht, erfuhren es erst am nächsten Morgen. Ich erinnere mich nicht mehr an die Einzelheiten der folgenden Tage. Wir bewegten uns durch den Ausnahmezustand, in den der Tod Angehörige versetzt. Und dann war irgendwie auch noch Weihnachten.

Dennoch wurde irgendwann von irgendwem das Brot gebacken. Und es wurde gut. Und seither backe ich jede Woche ein Brot. Von Woche zu Woche, von Teig zu Teig hangelte ich mich durch das Trauerjahr. Zunächst überfordert, weil ohne jede Erfahrung. Aber der Teig war nun mal da, auch als die Kinder wieder abgereist waren. Der Starter war der Auftakt für eine neue, unbekannte Zeitrechnung. Er setze einen fremden Rhythmus in Gang, mit dem ich mich erst einmal vertraut machen musste. Und daraus ergab sich eine tiefe Kontinuität, die mir Halt gab. Aber das wusste ich damals noch nicht. Nur eines war klar: Der Starter durfte nicht aufgegeben werden.

Ich begann dilettantisch. Dachte nicht an das Salz. Verzweifelte angesichts des klebrigen Teiges an meinen Händen. Traf falsche Entscheidungen. Fügte Mehl hinzu, wo Wasser nötig gewesen wäre – und umgekehrt. Vergaß die Form zu fetten. Stellte die falsche Temperatur ein. Ekelte mich vor der grauen Flüssigkeit, die sich nach ein paar Tagen auf dem Starter im Kühlschrank gebildet hatte. Hatte mehr als einmal das Gefühl, alles sei verdorben und nichts mehr zu retten. Und hörte den Timer nicht. Lange schlug ich mich mit dem Chaos herum, bekam den Teig nicht in den Griff und keine Routine wollte sich einstellen.

Ich aß die Brote. Die etwas harten, die nach dem Backen flach in der Form kauerten. Toastete die Scheiben der Brote, die noch ein wenig mehr Zeit gebraucht hätten oder als eiserne Reserve im Tiefkühlfach lagen. Das Brot änderte seinen Aggregatzustand mehrfach – und meinen. Denn in welchem Zustand ein Brot auch aus dem Ofen oder Toaster kam: Wärme und Duft ließen mich weitermachen.

Nachdem ich einmal einen Teig entnervt entsorgen wollte, weil er überhaupt nicht gehen wollte, erhielt ich Ermunterung, ihn trotzdem zu backen. Denn manchmal täusche der Schein und aus einem schweren Klumpen werde doch noch ein gutes Brot.

Ich übte Zuversicht und begann zu experimentieren. Ich gab dem Teig mehr Zeit. Probierte verschiedene Mehlsorten, verlängerte die Ruhezeiten, variierte Temperatur und Backzeit und tauschte das Wassergefäß im Ofen. Dann, mit wachsender Erfahrung, begann ich allmählich intuitiv zu handeln. Und das Brot wuchs über den Rand der Form hinaus und wurde luftig. Später im Jahr wurde ich mutiger, es gab nun Brote mit Leinsamen, die länger frisch blieben, sowie Brote mit Sonnenblumen- und Kürbiskernen.

Das Brot war immer reichlich. Es ging nie aus. Ich nahm es mit, wenn ich zur Arbeit ging und es war da, wenn ich nach Hause kam und keine Zeit gefunden hatte, einzukaufen oder mir Gedanken über das Essen zu machen. Ich aß es mit Hummus, mit Käse oder Quittengelee, zu Buttermilch und Kürbissuppe. Schnappte es beim Rausgehen als Ohnmachtshappen. Aß es im Dunkeln, wenn der Schlaf nicht kommen wollte. Teilte es mit Familie, Freunden, Kolleg:innen. Es war immer ein neues Brot, und doch wurzelte jedes Einzelne in dem einen Starter.

Ohne es geplant zu haben: Das Brotbacken tröstete mich. Es hielt den zerklüfteten Alltag zusammen: Zweimal pro Woche den Starter füttern, einmal backen. Brot für Brot ging es voran. Backen will gut geplant sein, aber eigentlich braucht es nicht viel Zeit. Alles im Blick behalten und einen langen Atem haben – das ist wichtig. Unmerklich machte ich all das mit immer mehr Ruhe, konnte es immer besser in den Alltag integrieren.

Dann kam der Herbst. Und mit der Zeitumstellung rückt der Advent näher. Der vierte Advent wird der erste Todestag meiner Mutter sein. Worauf werden wir warten, wenn wir Woche für Woche ein weiteres Licht auf dem Kranz entzünden? Auf den Anfang, der nicht verloren gehen darf, oder auf die Ankunft von etwas Unbekannten, das uns in eine neue Zeitrechnung, eine neue Umlaufbahn bringt, ohne dass wir wissen, wie uns geschieht?

Ich wünsche mir, dass in diesem Jahr auch die vierte Kerze brennen wird. Die Kerze, die im vergangenen Jahr nicht entzündet wurde, weil niemand zu Hause war.


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Silke Kirch 57 Artikel

Dr. Silke Kirch studierte Germanistik, Kunstpädagogik und Psychologie in Frankfurt am Main und ist freie Autorin und Redakteurin.

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