"Der Ökumenische Rat der Kirchen argumentiert einseitig und anti-judaistisch"
Herr Schnell, was sind die Kritikpunkte Ihres Arbeitskreises an den Positionen des Ökumenischen Rates der Kirchen?
Wir kritisieren die Einseitigkeit, mit der der Rat ausschließlich dass Leid der Palästinenser thematisiert und Israel auf die Anklagebank setzt, indem die Hamas und andere palästinensische Terrorgruppen und ihre Hintermänner im Iran oder Katar und vor allem die Massaker vom 7. Oktober 2023 nirgendwo erwähnt werden. Aber als theologischer Arbeitskreis sprechen wir uns vor allem deutlich – wie übrigens viele andere solcher Arbeitskreise in anderen Landeskirchen auch - gegen die überholte antijudaistische Auslegung von Bibelstellen aus, die der ÖRK für Gottesdienste und Gebete empfiehlt.
Welche Bibelstellen sind das?
Etwa der Hebräerbrief, Kapitel 4. Sinngemäß heißt es da, dass wir, die wir an Jesus glauben, in die „Ruhe Gottes“ eingehen – gemeint ist hier die ewige Seligkeit –, während die anderen, nämlich die Väter und Mütter des Volkes Israel, die während der Wüstenwanderung nach dem Auszug aus Ägypten aufbegehrten, verdammt sind. Das ist auf keinen Fall übertragbar auf heute, nach dem Motto, wir die Christen in den Kirchen des ÖRK, können die Seligkeit erreichen, die anderen, also die Juden, nicht. So hat es leider auch Martin Luther ausgelegt. Aber man muss den Hebräerbrief in seinem Kontext verstehen. Längst ist klar, dass es sich dabei um einen innerjüdischen Konflikt handelte: Zwischen Juden, die an Jesus als Messias glaubten und solchen, die das nicht taten. Mit einer Gegenüberstellung von Christen und Juden heute und zu allen Zeiten hat das nichts zu tun.
Was glauben sie, warum sich der ÖRK so einseitig äußert?
Von den 365 christlichen Kirchen, die zu diesem Rat gehören, stammen viele aus Regionen, die sich mit christlich-jüdischen Kontexten nicht so differenziert beschäftigt haben wie wir in Deutschland und Europa auf dem Hintergrund unserer Geschichte. Arabische, südamerikanische und afrikanische Kirchen stellen den Staat Israel immer öfter als Kolonialmacht dar, unter der die Palästinenser zu leiden haben. Ohne die illegale und zum Teil gewalttätige Landnahme von jüdischen Siedlern im Westjordanland gutzuheißen, muss man aber klarstellen, dass Israel als Zufluchtsort für Juden gegründet wurde, nicht als Kolonialmacht. Der ÖRK spricht außerdem von einem Apartheidsregime. Auch das ist falsch.
Warum?
Alle Menschen, die in Israel leben, haben, unabhängig von ihrer Herkunft, die gleichen Rechte. Arabische Israelis können alle staatlichen Einrichtungen in Anspruch nehmen, zum Beispiel an den Universitäten studieren; sie haben das volle aktive und passive Wahlrecht, es gibt rein arabische Parteien in der Knesset, dem israelischen Parlament, arabische Richter bis hin zum Obersten Gerichtshof und in der letzten Regierung vor der jetzigen Netanjahu-Regierung gab es auch arabische Minister – alles dies wäre in einem Apartheid-Staat wie früher in Südafrika undenkbar! Gewiss soll nicht verschwiegen werden, dass es zum einen leider bei extrem rechten jüdischen Israelis anti-arabischen Rassismus gibt, und dass es zum anderen Menschen aus arabischen Communities in Israel faktisch oft schwer haben, gesellschaftlich aufzusteigen. Aber solche sozialen Diskriminierungen aufgrund der ethnischen Herkunft und Rassismus finden wir vergleichbar in nahezu allen Ländern der Welt, nicht zuletzt in Europa und den USA.
Wie ist der Standpunkt Ihres Arbeitskreises zum Konflikt im Nahen Osten?
Für uns ist das Existenzrecht Israels eine Selbstverständlichkeit, das nicht zu diskutieren ist. Ebenso selbstverständlich ist für uns auch Kritik an der israelischen Regierung, wie an Regierungen eines jeden Landes. Aber die Gewalt und der Terror der palästinensischen radikal islamistischen und offen eliminatorisch-antisemitischen Hamas darf dabei nicht ignoriert und verschwiegen werden, wie es der ÖRK leider tut. Der Überfall vom 7. Oktober 2023 war der schlimmste Anschlag auf Juden seit der Shoah. Dass dieser Tag in den Stellungnahmen und Texten des ÖRK nirgendwo Erwähnung findet, ist bedrückend und skandalös.
Was wünschen Sie sich vom ÖRK?
Wenn es um den Nahostkonflikt geht: Leid und Verantwortung auf allen Seiten zu benennen und mit Nachdruck für friedliche Lösungen einzutreten. Ich wünsche mir aber auch, dass andere Kriege und Konflikte, wie zum Beispiel im Kongo oder im Sudan, wo derzeit massenhaft Menschen sterben, nicht aus dem Blick geraten. Und dass der ÖRK, statt sich völlig auf den Nahen Osten zu fokussieren, dieses vergessene Leiden stärker in das allgemeine Bewusstsein der weltweiten Christenheit rückt.
0 Kommentare
Zu diesem Artikel wurden noch keine Kommentare verfasst. Schreiben Sie doch den ersten.