Neujahrsempfang im Zeichen der Demokratie
Das Kirchenjahr tickt anders als das Kalenderjahr – mit dem Ersten Advent beginnt es. Entsprechend lädt die Evangelische Kirche in Frankfurt und Offenbach traditionell am Ersten Advent zum Neujahrsempfang Gäste aus Politik, Gesellschaft, christlichen Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften in die Heiliggeistkirche am Frankfurter Dominikanerkloster ein. Unter anderem folgten der Frankfurter Oberbürgermeister Mike Josef, Marc Grünbaum, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, Susanne Rägle, Wirtschaftsprofessorin der Frankfurt University of Applied Sciences, Michael Thurn, Leiter der katholischen Stadtkirche Frankfurt, Andreas Puckel, der leitende Pfarrer der katholischen Kirche in der Offenbach, und der für Rhein-Main zuständige evangelische Propst Oliver Albrecht der Einladung.
Die Würde des Menschen – aus OB- und Stadtdekan-Sicht
„Demokratie-Update“ lautete das Motto in diesem Jahr in der festlich illuminierten Kirche. „Eine Gesellschaft kann ohne Werte nicht funktionieren“, appellierte Oberbürgermeister Josef, der im Alter von vier Jahren als Flüchtling mit seinen christlichen Eltern von Syrien nach Deutschland kam. Es gehe darum, diese Werte nicht zu verlieren, alle Bürgerinnen und Bürger seien gefragt. Für Aussagen wie diese erhielt der Oberbürgermeister spontanen Beifall aus dem Publikum.
Mike Josef zitierte in seinem Grußwort die im Mai im Alter von 103 Jahren verstorbene Holocaust-Überlebende Margot Friedländer: „Wir sind alle gleich, es gibt kein christliches, muslimisches, jüdisches Blut.“ Vor Gott sind alle Menschen gleich – ein Prinzip, das sich bestens mit Demokratie verträgt, ein Gedanke den Josef und der evangelische Stadtdekan von Frankfurt und Offenbach, Holger Kamlah, teilten.
Kamlah leitete seinen Vortrag mit einem kritischen Rückblick ein: Historisch betrachtet sei die evangelische Kirche nicht immer auf der Seite der Demokratie gewesen. Im Kaiserreich, 1914, seien die Menschen für Gott und Vaterland in den Krieg gezogen. Selbst die NS-widerständige Bekennende Kirche sei in den wenigsten Fällen demokratisch grundiert gewesen. Er sei froh, Pfarrer in einer Kirche zu sein, die ihre Verortung in der „freiheitlich-demokratischen Ordnung unmissverständlich deutlich macht“.
Unter verschiedenen Aspekten betrachtete Holger Kamlah Demokratie. Einer davon war die Begrenzung der menschlichen Macht, die Willkür Grenzen setzt. Ein anderer das biblische „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Ohne Rückschicht auf andere ist „kein Staat zu machen“, sagte der Stadtdekan. Sowohl er, als auch Josef erteilten Antisemitismus eine deutliche Absage. Rassismus entspreche gleichfalls nicht der Ebenbildlichkeit des Menschen Gottes.
Ein Gruppe von Tänzerinnen und Tänzern des zum Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit Frankfurt gehörenden Jugendhauses Frankfurter Berg, unter der Leitung von Lulija Ghirmay, alias Dejavue, sorgte in der Heiliggeistkirche für Zwischeneinlagen. Kamlah begrüßte, dass die Jugendlichen auf „Trab bringen“. Mit Klatschen, auch vereinzelten anfeuernden Zwischenrufen, ließen sich die Gäste auf die Performance ein.
Demokratie – aus Science-Slam-Perspektive betrachtet
Aus der Jungen Akademie hervorgegangen ist Luca Neuperti, Finalist des deutschen Science Slams, aktuell Student digitale Soziologie im schottischen Edinburgh. Einen „Science Snack“ präsentierte der 27-Jährige rund um Demokratie und Digitales.
Sowohl er, als auch die auf den Stehtischen beim Empfang ausliegenden „Demokratie-Deckel“, nahmen Bezug auf „World Design Capital Frankfurt-Rhein/Main 2026“. Design ist für Neuperti nicht nur Ästhetik, sondern Gestaltung. Wortakrobatik, Gedankensplitter kombinierte der Masterstudent mit Projektionen in Retro-Flimmerästhetik, daneben illustriert mit KI-Generiertem.
Welche Wege geht die Demokratie? Wo sind die „Dark Patterns“, die „dunklen Muster“. „Brainrot“ erwähnte Neuperti, das Oxford-Wort des Jahres. Dahinter verbirgt sich ein im Internet entstandener Begriff, der Symptome beschreibt, die sich aus dem übermäßigen Konsum sinnfreier Inhalte auf Social-Media ergeben.
Hanna-Lena Neuser, Direktorin der Evangelischen Akademie Frankfurt, stellte Luca Neuperti vor, sichtlich stolz auf den Mut zum neuem Denken, gefördert in der Jungen Akademie. „Die Zeit der Komfortzone ist vorbei“, sagte Neuser, „wir erleben eine 'partizipatorische Revolution'“. Eine Reihe an Fingern gingen nach oben, als sie die Gäste des Empfangs fragte, wer unlängst Online-Petitionen unterstützt habe. Die Akademie, in der Nachkriegszeit gegründet, um „den Finger in die Wunde zu legen“, habe die Aufgabe, politische Bildung zu vermitteln, Mut zum Mitmachen bei der Demokratie, so Neuser.
Im Anschluss an das Programm blieb Zeit zum Austausch. Begleitet von Frank Hoffmann an der Orgel, der die Veranstaltung auch eingeleitet hatte, endete der Empfang mit einem vielstimmigen „Macht hoch die Tür“ der Anwesenden – so wie es beim Neujahrsempfang Tradition ist.