„Nicht länger die Realität der strukturellen Gefährdung ausblenden“
An kirchlicher Selbstkritik fehlt es nicht, als die Arbeitsgruppe zum Thema „sexuelle Gewalt“ bei der Stadtsynode im Frankfurter Dominikanerkloster ihren Abschlussbericht vorstellt. „Die ForuM-Studie war ein Schlag ins Kontor unserer Kirche“, sagte Pfarrer Gunter Volz. Der Blick von außen habe gezeigt, dass „oft ein Bild erzwungener Fröhlichkeit und Harmonie“ entstehe, wenn von Gemeinschaften im evangelischen Kontext die Rede sei. „Doch das Gebot der Nächstenliebe ist oft auch ambivalent, es ist manchmal hinderlich bei der Lösung von Konflikten. Fürsorge hat eine dunkle Rückseite“, sagte Volz weiter: „Seelsorgerische Kontexte können sexualisierte Gewalt begünstigen.“ Die Kirche habe viel zu lange „Betroffene zu Ruhestörern gemacht und Täter geschützt.“
Ein Beben war durch die Evangelische Kirche in Deutschland gegangen, als im Januar 2024 die ForuM-Studie erschienen war. In kirchlichen Akten hatten die Forschenden Hinweise auf mindestens 2.225 Betroffene und 1.259 Beschuldigte ermittelt - und ein jahrzehntelanges Versagen der evangelischen Kirche und der Diakonie auf allen Ebenen und in allen Landeskirchen offengelegt. Betroffene Personen seien nicht gehört worden, Taten nicht aufgearbeitet und Verantwortung nicht übernommen worden.
Ein gutes Jahr später nun präsentiert die Arbeitsgruppe die Ergebnisse ihrer Befragungen in kirchlichen Einrichtungen und Gemeinden des Evangelischen Regionalverbands Frankfurt und Offenbach (ERV). Es habe sich um eine „systemische Befragung mit einem Online-Tool“ gehandelt, sagte Monika Heil, die ERV-Beauftragte für Qualitätsmanagement. Die Beteiligungsquote der befragten Institutionen habe allerdings bei unter 50 Prozent gelegen. Die Frage „Gibt es bei Ihnen ein Gewaltschutzkonzept?“ hatten mehr als die Hälfte der Gemeinden mit „Nein“ beantwortet – oder mit der Aussage, sie wüssten zumindest nichts davon. In Kindertageseinrichtungen gebe es hingegen bei 82 Prozent ein solches Konzept. „Da besteht großer Nachsteuerungsbedarf“, sagte Monika Heil.
In dem 73 Seiten umfassenden Bericht empfiehlt die Arbeitsgruppe gezielte Maßnahmen, um das „Unsagbare sagbar zu machen“ und eine umfassende Sensibilisierung für Macht- und Abhängigkeitsstrukturen auf allen Ebenen verpflichtend und regelmäßig zu thematisieren. Ebenso müsse die Auseinandersetzung mit Täterstrategien ein fester Bestandteil der Schulung von Mitarbeitenden werden. Dazu gehören unter anderem das Erkennen von Manipulation, Machtmissbrauch, das Einfordern von Gehorsam, das Schaffen von Geheimnissen, Einschmeicheln, Sonderbehandlungen, schrittweise Grenzüberschreitungen, Drohungen, Schuldzuweisungen, Verschleierung und Vertuschung, sowie das Diffamieren und Bloßstellen von Opfern. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass der Handlungsbedarf häufig erst als akut wahrgenommen wird, wenn ein konkreter Vorfall auftritt. Doch es brauche in allen Kirchengemeinden und Einrichtungen eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt, um eine Kulturänderung einzuleiten. „Wir dürfen nicht länger die Realität der strukturellen Gefährdung ausblenden“, betonte Stadtdekan Holger Kamlah: „Wir müssen uns ohne Wenn und Aber strukturell bedingter Gefährdung von Menschen durch sexualisierte Gewalt im kirchlich-diakonischen Raum stellen.“
Ins Dominikanerkloster gekommen war an diesem Abend auch Matthias Schwarz. Schwarz ist pensionierter Pfarrer der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Er wurde als Kind von einem Pfarrer missbraucht. „Es braucht zwei, wenn nicht drei Generationen, bis all das aufgearbeitet ist“, glaubt er.
„Der Bericht ist nur ein erster Schritt“, heißt es in der Beschlussvorlage für die Delegierten der Stadtsynode: „Wir beauftragen den Vorstand des Stadtdekanats und des ERV, dafür Sorge zu tragen, dass die Empfehlungen des Berichts in enger Abstimmung mit Betroffenenverbänden und den beauftragten Stellen in Kirche und Diakonie umgesetzt werden.“ Der Beschluss wurde mit einer Gegenstimme angenommen.
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