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„Putin und Kyrill müssen Gott fürchten“

Das Frankfurter Kirchenparlament diskutierte mit dem Theologen Peter Scherle über den Beitrag einer evangelischen Friedensethik angesichts des Kriegs in der Ukraine. Klar wurde, dass die spirituellen und gesellschaftlichen Herausforderungen der „Zeitenwende“ für die kommenden Jahre groß sein werden.

Evangelische Christinnen und Christen sollen sich nach Ansicht des Theologen Peter Scherle mit fundierten religiösen Positionen in der friedensethischen Debatte rund um den Krieg in der Ukraine zu Wort melden. Bei einem Vortrag vor der Stadtsynode der Evangelischen Kirche in Frankfurt und Offenbach am 22. Juni im Frankfurter Dominikanerkloster warnte Scherle jedoch vor „Nullaussagen“ wie etwa der Beteuerung, Krieg dürfe nach Gottes Willen nicht sein. „Man kann nicht einfach beteuern, dass man für das Gute ist, sondern man muss konkrete politische Lösungen anbieten. Und die sind nie einfach gut, sie haben mit Güterabwägung zu tun“, sagte Scherle.

Der frühere Leiter des Theologischen Seminars Herborn der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) hatte vor einigen Wochen mit einem Artikel in der FAZ Debatten über eine verantwortliche christliche Position zum Ukrainekrieg angestoßen. Zusammen mit seiner Frau, der früheren Pröpstin von Rhein-Main und EKHN-Friedenspfarrerin Gabriele Scherle, hatte er darin christlich begründete Aufrufe zu einem prinzipiellen Waffenverzicht scharf kritisiert.

Gottes „Schalom“ ist etwas anderes als die imperiale „Pax Romana“

In Frankfurt war Scherle eingeladen, die Thesen zu konkretisieren. Es komme darauf an, aus der christlichen Tradition heraus etwas beizutragen, was andere nicht auch schon gesagt haben, sagte er. Das bedeute vor allem, „die großen Dimensionen des Schalom Gottes zu bezeugen“. Das hebräische „Schalom“ bedeute nämlich nicht einfach die Abwesenheit von Krieg, wie etwa das griechische „Eirene“, sondern eine umfassende Gabe Gottes, die mit einer schöpferischen Neuordnung der Welt einhergeht. „Schalom“ lasse sich also nicht einfach durch Niederlegung der Waffen erreichen, betonte Scherle. Noch einmal etwas anderes sei das lateinische „Pax“, ein Frieden, der wie die antike „Pax Romana“ eine Befriedung gesellschaftlicher Konflikte durch die Herrschaft einer imperialen Macht bedeute.

Ein christliches Zeugnis „für den Frieden“ müsse also zunächst einmal klären, welche Art von Frieden es eigentlich meint. Schließlich spreche auch der Moskauer Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche Kyrill von „Frieden“, meine damit aber eben nicht Gottes „Schalom“, sondern vielmehr eine Art herrschaftsförmiger „Pax Russia“.

Das Christentum habe sich in seiner Geschichte immer friedensethisch engagiert, aber nicht nur im Sinne eines prinzipiellen Gewaltverzichts. Ebenso wichtig sei die Tradition einer Begrenzung von Gewalt – etwa durch die Schaffung bestimmter Zeiten und Orte, an denen die Waffen ruhen, durch die Monopolisierung von Gewalt oder auch durch klar definierte Kriterien für legitime Gewaltausübung, wie sie Eingang ins moderne Völkerrecht gefunden haben. Auch die 2007 verfasste Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Friedensethik enthalte ausdrücklich den Verweis auf rechtserhaltende Gewalt als Ultima Ratio.

„Waffenlieferungen sind in ethischer Hinsicht legitim“

Angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine stelle sich die Frage, was geschehen soll, wenn sich ein Aggressor nicht an internationales Recht hält und auch niemand da ist, der dieses Recht durchsetzen kann. Derzeit werde die rechtserhaltende Gewalt faktisch ersatzweise von der Ukraine wahrgenommen, so Scherle, weshalb Waffenlieferungen seiner Ansicht nach auch im Rahmen der traditionellen christlichen Friedensethik legitim seien.

Gleichzeitig müsse aber auch dem „Mythos von der erlösenden Gewalt“ entgegengetreten werden, wie Scherle betonte. Menschliche Gewalt könne keinen Frieden im Sinne von Schalom schaffen. Deshalb sei es auch falsch, Putin oder die russische Machtelite als das „Böse“ zu zeichnen, denn das Böse kann nur Gott bekämpfen. Solchen problematischen Erlösungsphantasien sollten Christinnen und Christen die spirituell begründete Hoffnung entgegensetzen, dass Gott im Jüngsten Gericht am Ende das Leid vergilt, das Menschen auf Erden erlitten haben. In der heutigen religiösen Kultur sei dieser Aspekt des rächenden und vergeltenden Gottes aber fast völlig eliminiert worden, kritisierte Scherle. „Die entsprechenden Texte wurden aus den Liturgien rausgestrichen, und auch die Verkündigung hat eine deutliche Schlagseite hin zum lieben Gott, der völlig harmlos ist, weil ihm alles gleichgültig ist.“

„Christliche Friedensethik braucht einen strafenden Gott“

Eine ernsthafte christliche Friedensethik könne aber auf den richtenden und eingreifenden Gott nicht verzichten, ist Scherle überzeugt. Denn jeder irdische Friede, wie auch immer er vielleicht irgendwann erreicht wird, komme für die Opfer von Butcha und anderen Massakern ja zu spät. „Nach biblischem Zeugnis sitzt Gott nicht oben im Olymp und schaut auf uns runter, sondern geht in die Gewalt hinein“, sagte Scherle. „Unsere Aufgabe als Christinnen und Christen ist es, das Leid vor Gott zu bringen, und zwar mit einer Richtung, die klar auf Seiten der Opfer steht und die Aggressoren benennt. Unsere Hoffnung ist, dass Putin und Kyrill nicht an Gott vorbei kommen, dass sie Gott fürchten müssen. Die Hoffnung auf Auferweckung der Toten ist ein Protest gegen den vermeintlichen Sieg der Täter.“

Eine große spirituelle Aufgabe für die christlichen Kirchen sieht Scherle auch darin, „den Menschen zu sagen, dass das alte Leben vorbei ist.“ Viele Debatten würden heute mit dem Versprechen geführt, dass wenn die Krise vorbei ist, alles wieder so wird wie früher. Aber es werde auf absehbare Zeit keinen Frieden mit Russland mehr geben. Auch der Klimawandel werde unausweichliche Folgen haben, was zu großen gesellschaftlichen Konflikten und Auseinandersetzungen führen werde. „Wie wir uns in dieser neuen Welt einrichten, ist eine spirituelle Frage“, betonte Scherle. „Die Heizung ein paar Grad runterzudrehen wird dafür nicht reichen. Wir werden lernen müssen, in einer beschädigten Welt zu leben, und das größte Problem wird sein, dass Gesellschaften unter dieser Last womöglich zusammenbrechen.“

Scherles Thesen sorgten unter den Delegierten der Frankfurter und Offenbacher Kirchengemeinden für lebhafte Diskussionen. Stadtdekan Achim Knecht versicherte, dass die Impulse im Stadtdekanat aufgegriffen werden und man überlegen werde, in welcher Form sie in konkrete Handlungsfelder umgesetzt werden können.