Einsam soll niemand zu Grabe getragen werden
Pfarrerin Silke Alves-Christe hat gerade noch mal telefoniert, für den nächsten Tag ist eine „einsame Beerdigung“ auf dem Frankfurter Südfriedhof angesetzt, die Dreikönigspfarrerin geht kurz vor dem Termin davon aus, dass niemand der Urne folgt. In der kommenden Woche wartet eine weitere Trauerfeier, bei der laut Pietät keine Angehörigen erscheinen. Alves-Christe hat versucht, Kontakte dieser Toten herauszufinden, „diese einsamen Feiern sind für mich entsetzlich traurig“.
Die aktuelle Häufung der einsamen Bestattungen ist ungewöhnlich, aber es gibt sie, diese Beerdigungen, bei denen Silke Alves-Christe allein ist mit der Urne und den Friedhofsangestellten. Seit Jahren setzt die Sachsenhäuser Pfarrerin sich dafür ein, dass niemand aus der Dreikönigsgemeinde unbegleitet zu Grabe getragen wird. Sie klingelt bei Nachbarn, erkundigt sich bei Gemeindemitgliedern, die die Verstorbenen kennen könnten, ruft bei Nachlassverwaltern an. Dieser Tage bekam sie den Tipp, dass einer der beiden Toten in einer Sachsenhäuser Ebbelweikneipe regelmäßig verkehrt ist.
Die Pfarrerin schaut in dem Lokal vorbei, zur Mittagszeit ist viel Stammpublikum da. Die Wirtin ist hilfreich, weist auf einige Gäste hin, die ihn möglicherweise kannten, ihr selber sagt der Name nichts. Gleich die Erste erinnert sich jedoch gut, der Verstorbene war Juwelier, er hat Schmuck für sie bearbeitet. Sie kommt am nächsten Tag zur Trauerfeier.
Die Pfarrerin erfährt nur von Todesfällen aus ihrer Gemeinde, wenn es um „einsame Beerdigungen“ geht. Ihre Recherchen sind dann zäh und nachdrücklich. In der Dreikönigsgemeinde hat sie einen Kreis von Ehrenamtlichen aufgebaut, die sie bei solchen Trauerfeiern begleiten. „Sie bringen meist Blumen mit“, aber der Kreis ist klein „und die Leute sind oft beruflich oder anderweitig eingebunden“. Weitere Ehrenamtliche sind willkommen.
Alves-Christe bedrückt, wenn alleinstehende Menschen aus der Dreikönigsgemeinde bestattet werden, ohne dass sie davon erfährt. „Eine Frau aus der Gemeinde hatte sich vor Jahren an mich gewandt wegen ihrer Trauerfeier, wir hatten alles besprochen, Texte und Musik“ – und dann las Silke Alves-Christe eines Abends in der Zeitungsübersicht, dass deren Beerdigungstermin an dem Tag stattgefunden hatte. Die Urne kam ohne kirchliche Begleitung in die Erde.
Ein anderer Fall, der Silke Alves-Christe aufgebracht hat: Ein älteres kinderloses Ehepaar war betagt in die Kirche eingetreten, ausdrücklich mit Blick auf die Beerdigung. Den Mann hat Alves-Christe auf dem Südfriedhof beerdigt. Von dem Tod der Frau erfuhr die Pfarrerin per Zufall, als sie in dem Pflegeheim, wo diese zuletzt lebte, auf Seelsorgebesuch war. Die Heimleitung wusste nichts von Angehörigen, im Rahmen einer Sammelbestattung sollte die Tote in Offenbach unter die Erde kommen, dort sind freie Redner üblich. Alves-Christe konnte eine Beerdigung in Frankfurt durchsetzen, eine ehemalige Nachbarin der Verstorbenen gewann Alves-Christe mitzukommen.
Die Dreikönigspfarrerin ist enttäuscht, wenn in einem Mehrfamilienhaus ein Tod unbemerkt bleibt, wenn es mit der Nachbarschaft nicht klappt. „Die alten Menschen sind doch die, die Amazon-Bestellungen entgegennehmen“, sagt sie. Gerne denkt Silke Alves-Christe an eine Beerdigung zurück, zu der dann doch Mitbewohner:innen mobilisiert werden konnten, „eine hat sogar gesungen“.

Aber manchmal taucht eben niemand auf am Grab, keine frühere Kollegin, kein Anverwandter, keine Nachbarin, kein Sportsfreund, so wie in diesem Fall: Ein schlichter Sarg allein vor der Trauerhalle des Südfriedhofs, keine Blume darauf. „Es klebte nur ein Zettel am Sarg mit Name, Geburtsdatum und Sterbedatum“ sowie ein Hinweis „Erde sozial“. Es regnete an dem Tag, der Friedhofsbedienstete hakte nach: „Wollen sie wirklich mitgehen, es ist sehr matschig dahinten“, erzählt Alves-Christe. Als sie sich fest entschlossen zeigte, holte der Mann, der den Sarg schieben sollte, Kollegen, die den Sarg transportierten, er selber trug vorneweg das Kreuz. Für Alves-Christe, eine wichtige Erinnerung an Christus, „der Traurigkeit, Erbärmlichkeit und Niedrigkeit nicht scheute, sondern mit uns teilte“.
Die erste der aktuellen Bestattungen barg übrigens für Alves-Christe eine Überraschung, nicht nur die Frau aus dem Lokal kam, eine Gruppe Karnevalisten erschien. Der Tote gehörte dem Karnevalsverein „Die Kameruner“ an, stellte sich heraus. Ein Mann in Narrenuniform trug vorneweg die Urne. Solch bewegende Überraschungen kann es geben, bunt und mit Federschmuck und Litzen.