Gott & Glauben

Warum heute Christ:in sein?

Christin oder Christ zu sein ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr, angesichts der Pluralisierung der Gesellschaft und des Bedeutungsverlustes der Kirchen. „Warum heute Christ*in sein?“ fragten Elisabeth Zoll und Thomas Seiterich 22 Autorinnen und Autoren, darunter auch EFO-Chefredakteurin Antje Schrupp. Ihr Sammelband mit Essays, Interviews und Gedichten erschien kürzlich bei Hirzel.

Elisabeth Holl, Thomas Seiterich (Hg.): Warum heute Christ*in sein? 22 Antworten (Hirzel 2025)
Elisabeth Holl, Thomas Seiterich (Hg.): Warum heute Christ*in sein? 22 Antworten (Hirzel 2025)

Dieses Buch lässt sich nicht schnell lesen und schon gar nicht an einem Stück. Die Autor:innen – etwa Anna-Nicole Heinrich, Eckart von Hirschhausen, Antje Schrupp, Winfried Kretschmann, Margot Käßmann, Mara Klein u.a. – schreiben mit viel Bedacht und sind durchweg außerordentlich sprachmächtig. Das ist herausfordernd. Ihre Antworten auf die Frage nach dem Christ:in-Sein heute bieten ein Panoptikum an Erfahrungen, Blickwinkeln und Überraschungen. Es ist ein Buch, das zum Schmökern, Nachdenken, Durchkauen und glücklicherweise immer wieder auch Schmunzeln einlädt. Man kann sich ein Stück mitnehmen lassen, findet hier und da Anschluss, distanziert sich an anderer Stelle oder legt das Buch vorübergehend zur Seite. Etwa angesichts der umwerfenden Leichtfüßigkeit gewichtiger Fragen wie dieser an die Schriftstellerin Helga Schubert gerichteten: „Ärgern Sie sich gelegentlich über das Schweigen Gottes?“ Eine Frage, mit der man eine ganze Weile spazieren gehen kann. Oder?

Die Titelfrage ist zum Verzweifeln präsent und wer sich zum Glauben bekennt, dem ist ihr weitläufiges Echo aus dem Alltag sicher geläufig: Gehen Sie (wirklich) regelmäßig zum Gottesdienst? Sind Sie (etwa) gläubig? Oder gar fromm? Sind Sie (trotz Missbrauchsskandalen) Kirchenmitglied? Kurz: Wie sind Sie Christ:in geworden und warum sind Sie es eigentlich immer noch?

Und dann wird es kompliziert: Kann ein:e Christ:in sein, wenn sie keiner Kirche angehört und keine Kirchensteuern zahlt? Gibt es Religion ohne religiöse Gemeinschaft? Und wie ist das noch mal mit der Taufe? Kann ich Nicht-Christ:in werden, wenn ich mal ein:er war? Mit Heribert Prantl ist das ausgeschlossen, „weil ich nicht aus meinem Leben austreten kann“. Damit ist das Spannungsfeld, das sich wie ein roter Faden durch das Christ:in-Sein und das Buch zieht, umrissen: Christ:in ist, wer getauft ist und wer sich zum Glauben bekennt. Ambivalenz inklusive. Christ:in-Sein ist etwas, um das gerungen werden kann und gerungen wird. Und vielleicht vermitteln die Texte genau das: wie die Spannungen, das Ringen zum Leben dazugehören und eine christliche Haltung darin bestärken kann, das anzunehmen und zusammen weiterzukommen.

Die Antworten auf das Warum sind vielschichtige Erzählungen von den individuellen Wegen zum Christ:in-Werden und Christ:in-Sein. Dabei es geht den Autor:innen so, wie es vielen von uns geht: Entweder wurden sie mehr oder weniger rasch nach der Geburt getauft und sind in eine religiöse Gemeinschaft hineingewachsen, woraus eine Zugehörigkeit entstand – unangefochten oder angefochten: Die Verwurzelung war da. Oder: Wer ohne Taufe und ohne religiöse Traditionen aufwuchs, geriet durch einen Zufall in Kontakt. Durch den Kindergottesdienst. Durch die Langeweile der jungen Jahre und das begrenzte Angebot am Heimatort. Und dann hat es nicht mehr losgelassen: Der Ermöglichungsraum, der in der Gemeinde gefunden wurde, um sich auszuprobieren, die Gemeinschaft, das Aufblühen von Vorbildern, der kritische Diskurs, die Friedensbewegung. Die Revolution. Und das ist in aller Vielfalt aus Ost und West, von evangelischen und katholischen Christ:innen fast durchweg spannend zu lesen.

Allem voran wichtig sind vielleicht zuallererst die in den Texten aufgezeigten Möglichkeiten, sich die Frage nach dem Christ:in sein heute überhaupt zu stellen: Sind Sie Christ:in aus Gewohnheit, aus Tradition, aus Zwang, aus freiem Willen? Aktiv oder passiv? Einsam oder gemeinsam? Aus Interesse, aus Neugier oder mit Bezug auf aktuelle gesellschaftspolitische Themen? Weil es sinnstiftend ist und nicht wegzudenken? Aus Verantwortung füreinander, für die Schöpfung, für das Leben, das uns geschenkt wurde? Nur an Weihnachten? Aufgrund überzeugender Wertvorstellungen, aus Nächstenliebe, weil die zehn Gebote eine wichtige moralische Richtschnur sind? Weil Beten am Abend dazugehört und gemeinsam biblische Texte lesen inspiriert?

Oder: Weil immer eine Sehnsucht bleibt und Widerstand nicht zwecklos ist? „Die christliche Kernbotschaft lebt auch von der Gewissheit, dass Menschen in ihren sozialen Rollen und gesellschaftlichen Funktionen nicht aufgehen“, betont Karl-Josef Kuschel. Nicht zuletzt war Glaube immer auch eine Quelle der Erneuerung, von Reformen und Revolutionen. „Kirche! Tu was!“ überschreibt Eckart von Hirschhausen seinen Beitrag. Die Kirchen, die Gemeinden, so von Hirschhausen, sollten Ernst machen mit der Bewahrung der Schöpfung. Sie seien prädestiniert, die führende Rolle bei der Bekämpfung der Klimakrise einzunehmen. „Hätte Jesus sich heute mit uns auf die Straße geklebt?“, fragt der Jesuit Jörg Alt. Gar nicht so unwahrscheinlich. Denn auch das ist Glaube: Widerstand. Einstehen für die gemeinsame Zukunft und das gute Leben für alle.

Die Antworten auf die Frage, was es heute bedeutet, Christ:in zu sein, bezeugen vor allem eines: viel Beziehung und Beharrungsvermögen trotz aller Ungewissheit. „Glauben ist dankbares Bewusstsein von der Unverfügbarkeit“, schreibt Wolfgang Thierse. Auch so ein Satz für nicht nur einen Spaziergang. In ihm scheint Hoffnung auf, und diese ist zentral: Das Christentum war und ist eine universale Bewegung, die an der Hoffnung festhält. Nicht an der „Überzeugung, dass etwas gut ausgeht“, wie Wolfgang Kessler mit Bezug auf Václav Havel formuliert, sondern an der „Gewissheit, dass etwas sinnvoll ist, egal wie es ausgeht.“ Das mag auch für die Lektüre dieses Buches gelten.


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Autorin

Silke Kirch 55 Artikel

Dr. Silke Kirch studierte Germanistik, Kunstpädagogik und Psychologie in Frankfurt am Main und ist freie Autorin und Redakteurin.