Kunst & Kultur

Von Auschwitz nach Berlin: Der Film „Evolution“ zeigt das bleibende Trauma des Holocaust

Ein meisterhaft inszenierter Film mit sorgfältig getexteten Dialogen und durchdachter Symbolik: Die Evangelische Filmjury empfiehlt „Evolution“ von Kata Wéber und Kornél Mundruczó als Film des Monats.

Jónás (rechts) ist der Enkel einer Holocaust-Überlebenden und trägt das Trauma seiner Familiengeschichte in sich. In Berlin freundet er sich mit Mitschülerin Yasmina an. |Foto:
Jónás (rechts) ist der Enkel einer Holocaust-Überlebenden und trägt das Trauma seiner Familiengeschichte in sich. In Berlin freundet er sich mit Mitschülerin Yasmina an. |Foto:

Die Anfangsszene des Films zieht sich über viele Minuten hin. Man glaubt sich zunächst in einer Horrorgeschichte. Drei Männer in langen Mänteln putzen einen Raum, fast schon besessen. Sie finden Haare. Immer mehr. Sie schrubben und ziehen und schwitzen. Bis sich endlich herausstellt, wo das Ganze spielt: Im Konzentrationslagers Auschwitz reinigen drei Männer eine Gaskammer. Sie entdecken dabei einen lebenden Säugling, Éva.

Jahrzehnte später zeigt eine zweite Episode Éva als ältere Frau, wie sie mit ihrer Tochter Léna darüber streitet, ob sie Entschädigungsleistungen für Überlebende des Holocaust beantragt. Eine dritte Episode zeigt schließlich Évas Enkel Jónás, der an einer deutschen Schule gemobbt wird und sich in seine muslimische Mitschülerin Yasmina verliebt.

Der Film „Evolution“ der ungarischen Regisseur:innen Kata Wéber und Kornél Mundruczó thematisiert die Weitergabe des Traumas des Holocaust zwischen den Generationen. Dabei entlehnt er die Formen der Inszenierung dem Theater: Die Reinigung des Ortes des Grauens ist eine vollkommen erschöpfende, unmögliche Aufgabe. Die Szene von Évas Dialog mit ihrer Tochter Léna gleicht einem Kammerspiel: Kann man den deutschen Behörden vertrauen, wenn es um Entschädigung, wenn es um den Schutz von Jüdinnen und Juden geht? Muss die Tochter die Geburtsgeschichte der Mutter in Auschwitz erneut anhören? Wie funktioniert Erinnerung, wie ist sie zu ertragen? Konsequent findet der Regisseur hier eine surreale Lösung.

Die dritte Episode von Jónás und Yasmina schließlich bricht aus den umschlossenen Räumen aus. Sie weitet den Blick und zeigt, wie vielschichtig Rassismus und Antisemitismus bis in die heutige Gegenwart hineinreichen. Ein Sankt-Martins-Umzug ist schließlich Ausdruck eines fast hilflosen Bedürfnisses nach Integration. Allein die Gefühle, die die beiden Außenseiter:innen Jónás und Yasmina füreinander empfinden, können als mögliche Hoffnung verstanden werden.

Trauma des Überlebens und Gegenwart des Antisemitismus sind in diesem Film Thema von Verdrängung und mitunter physisch nach außen drängender Verarbeitung. Müssen nachfolgende Generationen sich mit der Geschichte ihrer Eltern und Großeltern auseinandersetzen oder haben sie das Recht auf eine unbeschwerte Kindheit? Können sie ein normales Leben führen angesichts der Kontinuität von Judenfeindlichkeit?

„Evolution“ ist ein meisterhaft inszenierter Film mit sorgfältig getexteten Dialogen und durchdachter Symbolik. Er gibt keine einfachen Antworten, sondern konfrontiert das Publikum mit Fragen, die durch zunehmenden Antisemitismus derzeit noch einmal an gesellschaftlicher Aktualität gewinnen.

Kinostart in Deutschland ist der 25. August, die Evangelische Filmjury empfiehlt „Evolution“ als Film des Monats.


Autorin

Antje Schrupp 227 Artikel

Dr. Antje Schrupp ist Chefredakteurin des EFO-Magazins. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com Mastodon: @antjeschrupp@kirche.social

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