Leben & Alltag

„Unser Leben ist jetzt hier, aber ich vermisse die Ukraine“

Flucht aus Kyiv: Ein ukrainisches Frauenpaar fand Hilfe bei Frauenpfarrerin Anne Daur-Lyrhammer. Inzwischen können sie selbst ankommenden Flüchtlingen helfen.

Elena Kostenko, Anne Daur-Lyrhammer und Anastasiya Kolesnyk sind inzwischen Freundinnen. | Foto: Rolf Oeser
Elena Kostenko, Anne Daur-Lyrhammer und Anastasiya Kolesnyk sind inzwischen Freundinnen. | Foto: Rolf Oeser

Dass sie einmal in Deutschland leben würden, war nicht geplant. Doch seit über einem Jahr leben Anastasiya Kolesnyk (34) und Elena Kostenko (29) aus Kyiv schon in Deutschland. Sobald sie gut genug Deutsch können, will Kostenko wieder als Krankenschwester arbeiten und Kolesnyk als Fotografin. Ihre 5-jährige Tochter Mia geht in den Kindergarten vor Ort.

Als der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, kamen die beiden Frauen gerade von einem dreimonatigen Aufenthalt auf Sri Lanka zurück, wo Kolesnyk einen lukrativen Job als Fotografin hatte. „Meine Mutter hat uns noch gewarnt und gesagt: Kommt nicht zurück, es gibt Krieg“, erzählt sie. „Wir haben das einfach nicht geglaubt. Und wir mussten auch zurück nach Hause, denn unsere Visas waren abgelaufen.“

Kaum zurück in Kyiv erschien auf allen Handys der Bevölkerung die Meldung, dass Krieg ist, erzählt Kostenko. „Wir haben gar nicht erst richtig ausgepackt, nur Sommer- gegen Winterkleidung getauscht, wollten einfach nur weg.“ Sie fuhren zwanzig Stunden im Auto in Richtung polnische Grenze. Dann ging es zu Fuß weiter. Zehn Kilometer. Die eine schleppte die Koffer, die andere trug das Kind. Es war bitterkalt. Aber im Auto hätte es noch viel länger gedauert. Und es war zu gefährlich. Es gab Bombenwarnungen. Schließlich schafften sie es in die polnische Stadt Lublin, wo sie für eine Woche mit anderen Geflüchteten in einem Schlafsaal unterkamen.

Anteilnahme und Hilfsbereitschaft der polnischen Bevölkerung waren überwältigend, erzählt Kolesnyk. Aber dauerhaft dort zu bleiben, war war keine Option: Lesbische Paare haben in Polen einen schweren Stand.

Im Internet stieß Anastasiya Kolesnyk auf die Webseite des Evangelischen Frauenbegegnungszentrum in Frankfurt. Frauenpfarrerin Anne Daur-Lyrhammer hatte dort angeboten, einzelnen ukrainischen Frauen zu helfen. Der Kontakt war schnell hergestellt. Schließlich standen die beiden Ukrainerinnen mit ihrer kleinen Tochter im Zug von Krakau nach Deutschland – er war so voll, dass es keine Sitzplätze mehr gab. Am Frankfurter Hauptbahnhof nahm Laur-Dyrhammer sie zusammen mit ihrer Frau am Gleis in Empfang. „Wir hatten schon soviel hin- und her getextet und Fotos gesehen, dass ich das Gefühl hatte, die beiden schon lange zu kennen“, erzählt die Frauenpfarrerin. „Das Vertrauen zwischen uns war von Anfang an da.“

Für einen Monat konnte sie die kleine Familie in der Wohnung ihres Vaters in Dietzenbach unterbringen – er war gerade in Schottland und stellte seine Bleibe gerne zur Verfügung. „Ich bin so wahnsinnig dankbar“, sagt Kostenko. „Ich liebe dieses Land, die Menschen hier und dass wir uns in der Öffentlichkeit an der Hand halten können, ohne dass es jemanden stört.“

Aber es blieben natürlich Fragen. Hierbleiben oder vielleicht doch zurückgehen? Wie geht es der Familie, den Freund:innen? „Die Nachrichten wurden ja auch immer schlimmer“, erinnert sich Kostenko. „Aber Anne hat uns nicht nur mit tausend praktischen Dingen geholfen und in ihre Familie aufgenommen, sondern uns auch immer wieder Mut gemacht.“ Die Pfarrerin sagt: „Ich bin so erzogen worden. Meine Eltern hatten immer ein ganz offenes Haus.“

Ende April 2022 fand Anastasiya Kolesnyk eine eigene Dachgeschosswohnung. Sie hatte beim Einkaufen einfach einen älteren Herrn angesprochen. Mittlerweile haben die beiden Ukrainerinnen Flohmärkte organisiert, um Freund:innen in der Ukraine mit warmen Kleidern und Essen zu unterstützen. Sie sind jetzt schon in der Lage, anderen Geflüchteten aus der Ukraine zu helfen. Sie konnten auch Kostenkos Mutter nach Frankfurt holen. „Unser Leben ist jetzt hier“, sagt sie. „Aber ich vermisse die Ukraine auch.“

Kolesnyk sagt: „Am Anfang wollte ich einfach nur mein altes Leben zurück.“ Aber jetzt kann sie sich gut vorstellen, in Deutschland zu bleiben: „Die Wirtschaft läuft, die Politik ist liberal und es gibt hier keine Korruption“, sagt sie. „Ich werde mein Land immer unterstützen, aber ich habe auch nur ein Leben.“

Auf Sri Lanka hat sie Hochzeitsfotos von russischen Paaren geschossen. „Das geht jetzt natürlich nicht mehr.“ Etwas Neues kann beginnen.


Autorin

Stephanie von Selchow ist Redakteurin des EFO-Magazins.

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