„Lasst uns nicht im Stich!“
Anfang Juni ist eine aus sieben Personen bestehende Delegation der „Near East School of Theology“, kurz N.E.S.T., aus Beirut kommend in Frankfurt gelandet.
„Es ist wichtig, sich verbunden zu wissen“, sagt Saba Kerry, Theologiestudent an der N.E.S.T., „Als Christen sind wir nur eine kleine Gruppe im Nahen Osten, oft werden wir nicht gesehen. Und oft werden unsere Stimmen nicht gehört“. Die aus Lehrenden und Studierenden der Hochschule im Libanon bestehende Gruppe war eine Woche auf Einladung der Evangelische Mission in Solidarität (EMS), ansässig in Stuttgart, und des Zentrums Oekumene der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) in Deutschland unterwegs.
Zu dem Programm der Gruppe zählten Vorträge und Begegnungen, unter anderem mit der Kirchenpräsidentin der EKHN, Christiane Tietz, so wie mit der Bischöfin der EKKW, Beate Hofmann. Eine weitere Station war eine gemeinsame Tagung in Erfurt.
Rima Nasrallah, Professorin für Praktische Theologie an der N.E.S.T., betont: „In einer Zeit, in der Religion benutzt und missbraucht wird als Waffe für eigene nationalistische Interessen, zur Unterdrückung und für Gewalt, sind wir tagtäglich als Christen existentiell herausgefordert. Theologie hilft, kritische Fragen zu stellen und Religion als Ideologie zu unterscheiden vom Glauben an Gott, der mir im Leben Kraft und Halt gibt“.
George Sahili, der gerade an der N.E.S.T. seinen Master in Theologie erfolgreich abgeschlossen hat, ergänzt: „Die Jugend ist desillusioniert, die meisten wollen weg“. George möchte aber bewusst bleiben. Der evangelisch-armenische Christ und zukünftige Pfarrer will seiner Kirche im Libanon dienen. „Die jungen Menschen brauchen Orientierung. Theologie ist bei uns existentiell. Sie hat direkt mit unserem Leben zu tun. Sie ist eine Chance, Hoffnung zu schenken, die eigene Würde zu bewahren. Sie stärkt uns, denn Theologie bietet uns Perspektiven gegen jede Art von religiösem Fanatismus.“
Mathilde Sabbagh, 35, ist Pfarrerin der syrisch-libanesischen Presbyterianer. Eine Rarität, denn erst fünf Frauen gebe es in ähnlicher Position in der Region in den protestantischen Kirchen, erzählt sie. Sabbagh berichtet, sie reise immer wieder von ihrer Heimatstadt Hasssakeh im Nordosten Syriens bis nach Beirut. Für die Mutter von Zwillingen ist das aufgrund der von unterschiedlichen Gruppen kontrollierten Gebiete in Syrien sehr anstrengend. „Ich empfinde die Verantwortung“, sagt sie über ihre Arbeit und lacht, sie strahlt Stärke aus. „Ich komme aus einer religiösen Familie, mein Bruder ist auch Pfarrer.“
Andreas Goetze, der vom Zentrum Oekumene aus das Begegnungsprogramm mit organisiert hat, hebt die Bedeutung des Besuchs hervor: „Wir wissen so wenig über die prekäre, höchst angespannte Lage der Christinnen und Christen in der Region. Im Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah drohen Libanons Christen zwischen die Fronten zu geraten. Und auch die Lage in Syrien ist sehr instabil und gefährlich und alles andere als sicher“, sagt der in dem Zentrum für Interreligiösen Dialog - Islam, Christ*innen im Mittleren Osten Verantwortliche.
Goetze war 2007 in Beirut an der N.E.S.T.: „Eine Zeit, die mich sehr geprägt hat“. Susanna Faust-Kallenberg, seine Vorgängerin im Zentrum Oekumene, inzwischen Pfarrerin für interreligiösen Dialog im Evangelischen Stadtdekanat Frankfurt und Offenbach, hat früher das „Studiums im Mittleren Osten“ (SiMO-Programm) koordiniert. Für zwei Semester führt es an die Hochschule mit dem Schwerpunkt Islam und orientalische Kirchen. Die deutschen Studierenden an der N.E.S.T. hätten sich oft nur schwer losreißen können, so faszinierend sei das Studium in Beirut gewesen, berichtet Faust-Kallenberg.

Vortrag und Begegnungsabend eröffneten die Woche
Auftakt der Reise, wenige Stunden nach der Landung, war ein Abend in der Evangelischen Akademie Frankfurt mit Vortrag und Empfang.
Professor Martin Accad, seit September 2024 Präsident der N.E.S.T., hielt einen öffentlichen Vortrag über „Christen und Muslime jenseits der Opferrollen“. Die Opfer-Narrative seien bequem, meint Accad, so seien immer die anderen verantwortlich für alles, was passiert. Die Welt werde dann schnell eingeteilt in „Wir – und die Anderen“.
Der an der N.E.S.T. und in Oxford ausgebildete Theologe warb für einen Dialog, der die unterschiedlichen Narrative wahrnimmt, ohne ihnen einfach recht zugeben. Es gehe um Respekt, Empathie, Menschlichkeit, „um ein aktives Zuhören“. Dafür brauche es mehr religiöse Bildung, auch bei denen, die sich als nicht religiös verstünden, findet der Theologe.
Helge Bezold und Annegreth Schilling, Theologische Studienleitung der Akademie, bereiteten die Veranstaltung mit vor. Schilling findet, dem „Horizonte öffnen“ habe auch die Anwesenheit von Pater Gaby Geagea von der Maronitenmission Frankfurt, deren Wurzeln im Libanon und Syrien liegen, bei Vortrag und Diskussion gedient.
Vor der öffentlichen Veranstaltung gab es in der Akademie einen Empfang für die Gäste aus Beirut und ehemalige Absolvierende der N.E.S.T. aus Hessen. In seiner Begrüßung sagte der Evangelische Stadtdekan von Frankfurt und Offenbach, Holger Kamlah, in den beiden Städten spiele Interreligiöser Dialog angesichts der Bevölkerungsstruktur eine wichtige Rolle. In Beirut gehe es weniger um interreligiösen Dialog, wie er in Europa gepflegt werde, sondern eher um die Organisation des Alltags, Hineinwirken in die Gesellschaft, äußerte Accad.
Thorsten Peters, Pfarrer der Gethsemanegemeinde im Frankfurter Nordend, zählt zu den hessischen Theologinnen und Theologen, die sich lebhaft an den Aufenthalt im Libanon erinnern und die an dem Empfang teilnahmen. Als eine Region, in dem Christentum geographisch wurzelt, hat er sein Umfeld vor neun Jahren erfahren. Beirut erlebte er als eine Stadt mit ganz verschiedenen christlichen Facetten. In Erinnerung kommen ihm die Graffitis, die an den Genozid an den Armeniern Anfang des 20. Jahrhunderts im Osmanischen Reich erinnern. In Beirut fanden sie Zuflucht.
Weitere Informationen: http://simo-studienprogramm.org/