„Freie Träger müssen nicht politisch neutral sein“
Der politische Ruck nach rechts, er ist schon längst passiert. Darin sind sich die Teilnehmenden der Podiumsdiskussion einig, zu der Caritasverband, Evangelischer Verein für Jugendsozialarbeit, Dezernat für Soziales und Gesundheit sowie das Jugend- und Sozialamt der Stadt Frankfurt unter dem Titel „Rechtsruck und Neutralitätsgebot in der Stadtgesellschaft“ in die Evangelische Akademie eingeladen haben. „Inhaltlich gab es nie eine Brandmauer“, sagt der Politikwissenschaftler und Publizist Arne Semsrott. „Es brennt auf beiden Seiten.“
Für sein Buch „Machtübernahme“ hat Semsrott ein Szenario entwickelt, wie sich Rechtspopulisten „in 1000 Schritten“ des Staates bemächtigen könnten. Dieses Szenario sei von der Realität, etwa in der Asyl- und Flüchtlingspolitik mit Abschiebungen nach Afghanistan, bereits teilweise überholt. Weitere „klare Anknüpfungspunkte im Jetzt“ sieht der Journalist etwa bei der Durchsetzung von „Genderverboten“, der Einschränkung von Ermessensspielräumen bei amtlichen Entscheidungen oder der Weisung an Bibliotheken, Bücher, die nicht ins eigene Weltbild passen, aus den Regalen zu nehmen – wie in den USA bereits geschehen.
Wie machen sich solche politische Veränderungen an der Basis, in der Arbeit mit diskriminierten Menschen und vulnerablen Gruppen bemerkbar? Migrant:innen würden immer häufiger pauschal als Schmarotzer und Straftäter verunglimpft, sagt Zamira Benjelloun, Koordinatorin beim Jugend- und Sozialamt. Selbst Hochqualifizierte bekämen oft nicht mal einen Praktikumsplatz. Sozialarbeiter und Lehrerinnen seien in ihren Rollen verunsichert. Ängste und Spaltungen nimmt Tú Qùynh Nhu Nguyen, die Fachkraft in der Offenen Jugendarbeit ist, bei jungen Menschen wahr. Eine Zunahme tätlicher Angriffe beobachtet Liisa Pärssinen von „response“, eine Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt.
Wie können Klientel und Mitarbeiter:innen gegen die Entwicklungen geschützt werden? „Wir müssen nach außen sichtbarer werden“, sagt Benjelloun. „Und auch in den eigenen Einrichtungen Gerechtigkeit und Diversität verteidigen.“ Die Arbeit von Vereinen wie „Rödelheim gegen Rassismus“ brauche ebenfalls Unterstützung.
Das immer wieder beschworene Neutralitätsgebot wirke da allerdings wie eine Handbremse. Dieses Gebot sei „ein Gespenst“, sagt Julika Bürgin, Politologin und Professorin an der Hochschule Darmstadt. Ein parteipolitisches Neutralitätsgebot gelte lediglich in sehr eingeschränkten Bereichen der Exekutive. „Diejenigen, die Macht bekommen, sollen den Menschen nicht sagen, wie sie politisch zu ticken haben.“ In der Praxis sei die Unterscheidung zwischen Amtsträger und Parteipolitiker aber eigentlich nicht durchzuhalten. Im öffentlichen Dienst sei die Anwendung eines Neutralitätsbegriffs umstritten, in Bezug auf freie Träger werde die Vorstellung, dass sie politisch neutral sein müssten, noch problematischer, so Bürgin. Gruppen und Institutionen, die am politischen Willensbildungsprozess teilnehmen sollten, würden so ausgeklammert.
„Es geht um die Grundsatzfrage: Kann die Zivilgesellschaft politisch arbeiten, oder ist sie nur ein verlängerter Arm der Verwaltung“, sagt Semsrott und führt das Beispiel des Flüchtlingsrats in Sachsen an, der vom Landesrechnungshof wegen mangelnder Neutralität gerügt wurde. Er wünsche sich mehr Rechtsprechung in diesen Fragen.
Wichtig sei, sich untereinander zu solidarisieren, Netzwerke zu bilden. Als warnendes Beispiel nennt Semsrott erneut die USA, wo die Verwaltungen von Trumps Kahlschlägen überrumpelt worden seien, weil es keine Gegenstrategie gegeben habe. Auch die Zivilgesellschaft müsse sich solidarisieren, unterstreicht Pärssinen. „Alle schauen weg, wenn etwas passiert.“ Menschen in Behörden und darüber hinaus müssten ihr Wissen über Rassismus erweitern. Dabei müsse man die eigenen Vorurteile erkennen und sich damit auseinandersetzen. „Das sollte für alle verpflichtend sein.“
Ein weiterer Hebel liege in der Finanzierung der Arbeit. „Über Zuwendungen können Träger an die Kette gelegt werden“, warnt Bürgin. Um die Organisationen wetterfest zu machen, solle man deshalb versuchen, eine Regelförderung der Arbeit durchzusetzen.
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