Wenn Abschiebepolitik plötzlich mit am Küchentisch sitzt
Ein Mitschüler meines älteren Kindes wurde in den Osterferien mitsamt seiner Familie abgeschoben. Als mein Sohn montags nach Hause kommt, ist er angefasst und tief berührt. „Angad ist weg!“ sagt er nur. Die Familie des Jungen stammt aus Afghanistan. Sechs Jahre lebten sie bereits in Frankfurt. Beide Kinder gingen auf dieselbe Schule wie mein Sohn. Das ältere Kind, Angad, hätte jetzt seinen ersten Schulabschluss gemacht. Die Klasse steckte mitten in den Prüfungsvorbereitungen.
Die verschärfte Abschiebepraxis, über die Bundeskanzler Friedrich Merz in seiner ersten Regierungserklärung gesprochen hat, ist nun auch Thema bei uns am Küchentisch. Und was theoretisch für viele logisch klingt, nämlich, dass Ausreisepflichten konsequent umgesetzt werden, sind einem 15-Jährigen nur schwer zu vermitteln, wenn es seine Mitschüler betrifft. Ich ringe um Erklärungen, von denen ich selbst merke, wie dürftig sie sind. Wie lässt sich menschlich begründen, warum zwei nette und hilfsbereite Jungs und ihre Eltern nicht mehr bei uns leben dürfen?
Die Kapoors, so heißt die Familie, sind nach eigenen Angaben afghanische Sikhs, wurden aber nach Indien abgeschoben: Deutschland hat ein Abkommen mit dem Land, afghanische Sikhs werden dort aufgenommen. Allerdings gibt es kein Hilfesystem, das sie auffängt. In den ersten Nächten schlafen sie in einem Tempel. Wie es weitergeht, weiß die Mutter nicht. Sie erzählt mir ihre Geschichte am Telefon – über einen Messanger stehen wir weiterhin in Kontakt.
„Deutschland muss seine Belastungsgrenze erkennen“, hat Merz in seiner Regierungserklärung gesagt. Und ja, kein Staat kann unbegrenzt Menschen aufnehmen und für ihr Wohl sorgen. Es ist legitim, über Migration zu diskutieren, um einen Weg zu finden, so gut wie möglich mit ihr umzugehen. Der Asylantrag der Kapoors wurde abgelehnt. Sie lebten etwas mehr als sechs Jahre geduldet in Frankfurt, ihre Abschiebung war ausgesetzt. Für Kinder sind sechs Jahre eine lange Zeit, ihr halbes Leben. Die Familie hatte sich hier etwas aufgebaut. Sie hatten Freunde, Nachbarinnen, gingen zur Schule und zur Arbeit.
Mein Kind sagt, das sei nicht gerecht. Er weiß, dass es Angad und Guneet, so heißen die Jungs, nicht gut geht. Er stellt sich vor, wie es ist, wenn man sein Zuhause verliert und eigentlich auch sonst alles. Wie sich Flucht und Abschiebung anfühlen könnte. Die Jugendhilfe der Schule hat eine Petition und eine Demo für das Bleiberecht der Familie organisiert. Das sind demokratische Mittel, die mein Kind als kritischer Bürger dieser Republik, der er mal werden soll, miterlebt und lernen soll. Gut so.
Aber es ist auch Realität, dass es kaum eine Möglichkeit gibt, seine beiden Freunde und deren Eltern wieder zurückzuholen. Ich erzähle von politischen Entscheidungen, von europäischen Außengrenzen, von Dublin-Verfahren, von bilateralen Staatenabkommen und sicheren Herkunftsländern. All das ist wenig befriedigend, auch weil der ganzen Sache auch jegliche Menschlichkeit fehlt.
Ich erzähle von unserem Grundgesetz und von der Menschenwürde, die darin hochgehalten wird. Mein Sohn sagt, dass es für ihn menschenwürdig wäre, einer Familie, die hier viele Jahre gelebt hat und gut integriert war, eine Chance zu geben. Ich möchte ihm zustimmen, weiß aber selbst nicht, wo man eine Grenze ziehen muss.
„Wir schaffen das!“ hat Angela Merkel vor zehn Jahren gesagt und damals, in einer Welle der Euphorie, fast die ganze Republik mitgerissen. Die politische Stimmung hat sich seither gedreht. Der Kurs der neuen Regierung ist eine 180-Grad-Wende, und ein großer Teil der Bevölkerung trägt diesen Kurs mit. Ich sage meinem Kind, dass wir in Deutschland die Möglichkeit haben, für unsere Überzeugungen einzustehen. Das ist ein hohes Gut, sage ich weiter, auch, weil es nicht selbstverständlich ist. Vielleicht kann er das behalten und für sich überprüfen, was sein Beitrag für unsere Demokratie sein kann.
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