Politik & Welt

„Wir müssen diesen Jugendlichen helfen, auf ihrem Lebensweg weiterzukommen“

Einerseits brauchen wir in Deutschland junge Arbeitskräfte, andererseits ist der Umgang mit jungen Migrant:innen von bürokratischer Logik und langwierigen Asylverfahren geprägt. Und jetzt werden auch noch Integrationskurse für Jugendliche weggekürzt. Was bedeutet das für die betroffenen jungen Menschen? Ein Gespräch mit Darya Holstein, die beim Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit zuständig ist für die Projekte, die vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund ansprechen.

Darya Holstein vom Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit. | Foto: Rolf Oeser
Darya Holstein vom Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit. | Foto: Rolf Oeser

Hier können Sie den EFO-Podcast mit Darya Holstein hören


Frau Holstein, wie erleben Sie die derzeitigen Debatten über Migration? Und vor allen Dingen: Wie erleben das die Jugendlichen, die bei Ihnen in Projekten sind?

Das ist ein absolut herausforderndes Thema für uns, für den Verein, für die Stadtgesellschaft und vor allem für die Jugendlichen. Denn die Jugendlichen sind tagtäglich belastenden Situationen ausgesetzt und damit konfrontiert, dass sie sich einerseits integrieren sollen, aber auf der anderen Seite Medien, Öffentlichkeit und gesetzliche Strukturen bewirken, dass sie dabei nicht weiterkommen können. Die Jugendlichen, die zu uns kommen, bringen alle ihre Ängste und Belastungen mit und besprechen das auch mit den Kolleginnen und Kollegen.

Was sind das für Ängste und Belastungen?

Es sind existenzielle Ängste. Zum Beispiel, dass sie nicht wissen, ob sie die Schule weitermachen können oder ob ihre Sprachkurse weitergehen können. Dass sie nicht wissen, was passiert, wenn der Sprachkurs zu Ende ist. Ob sie dann einen Berufssprachkurs weitermachen können, oder ob die Möglichkeit besteht, sich in berufliche Maßnahmen integrieren zu lassen. Weil es bei den Behörden auf alles Mögliche ankommt: mit welcher Aufenthaltssituation die jungen Menschen hier sind, welche Berechtigungen und Voraussetzungen sie mitbringen, um Ausbildungsplätze oder bestimmte Maßnahmen bekommen zu können. Es sind ja alle möglichen Jugendlichen hier, von Geflüchteten bis hin zu welchen, die hier geboren sind.

Das heißt, ihre Situation ist sehr unterschiedlich, je nachdem.

Genau. Mein Arbeitsbereich ist für Jugendliche mit Migrationsgeschichte generell zuständig. Junge Menschen ab dem zwölften Lebensjahr haben die Möglichkeit, bei uns unterschiedliche Beratungsdienste zu bekommen und Fragen und Probleme zu besprechen. Wir haben Jugendliche aus Großunterkünften für Geflüchtete, die Probleme haben im Alltag, im Umgang mit Erwachsenen und ihrer sozialen Umgebung. Andere Jugendliche haben Sprachprobleme, wegen denen sie in der Schule nicht weiterkommen. Wieder andere haben Probleme mit ihrer Aufenthaltssituation.

Wie ist denn die Situation bei Geflüchteten? Nehmen wir mal an, ein 15-jähriger Jugendlicher aus Afghanistan kommt hier an und kann erst mal überhaupt kein Deutsch, muss er dann gleich in die Schule gehen? Wie muss man sich das praktisch vorstellen?

In der Regel ist es so, dass Geflüchtete, die hier ankommen, erstmal einen Sprachkurs brauchen. Normalerweise besuchen sie einen Sprachkurs dort, wo sie untergebracht sind. Diejenigen, die unter 16 sind, werden aber in betreuten Einrichtungen untergebracht, das heißt, sie sind in geordneten Strukturen und dort erstmal auch gut aufgehoben. Sie gehen auch in die Schule, und im Rahmen der schulischen Bildung gibt es sogenannte InteA-Maßnahmen, also spezielle Klassen.

Was bedeutet InteA?

„Integration durch Anschluss und Abschluss“. In diesen Klassen geht es darum, dass diese Jugendlichen direkt an den Schulen die deutsche Sprache erlernen und dann versuchen können, einen schulischen Abschluss zu bekommen. Wir haben aber auch sehr viele Jugendliche, die einfach in Unterkünften untergebracht sind und damit nicht in dieser geordneten Struktur. Und das ist ein Problem.

Zum Beispiel, weil sie mit ihren Eltern gekommen sind?

Ja, aber es gibt auch viele, die ohne Eltern gekommen sind, aber trotzdem in der Unterkunft bleiben, weil die Einrichtungen für betreutes Wohnen nicht genügend Plätze zur Verfügung haben. Gerade, wenn eine große Anzahl von jungen Menschen hierherkommen, brauchen wir entsprechende Fachkräfte, Liegenschaften und so weiter. Da haben wir einfach nicht genug. Deshalb schaut man nach anderen Lösungen im kommunalen Bereich, damit die Jugendlichen gut unterkommen können.

Wie läuft so ein typischer Weg ab? Wenn alles gut läuft, haben die jungen Menschen am Ende einen Schulabschluss und können selbstständig leben?

Ja, was ihren Bildungsweg betrifft. Aber wir müssen auch von der aufenthaltsrechtlichen Situation sprechen. Und die steht dazu oft im Widerspruch. Wir verlangen derzeit von den Jugendlichen, dass sie die Sprache lernen, sich in eine berufliche Laufbahn begeben, sich integrieren sollen, obwohl sie in dieser ganzen Zeit überhaupt noch nicht wissen, ob sie hierbleiben können.

Von welchem Zeitraum sprechen wir da?

Das kann sich drei bis fünf Jahre hinziehen. Es ist ein sehr, sehr langer Weg. Die jungen Menschen müssen immer wieder nachweisen, dass sie integrationsfähig sind, dass sie sich integrieren wollen, sowohl beruflich als auch gesellschaftlich. Und auf der anderen Seite steht eine Gesetzeslage, die irgendwann einmal darüber entscheidet, ob diese Jugendlichen tatsächlich die Berechtigung haben, in Deutschland zu bleiben.

Welche Rolle spielt denn die Frage, ob jemand integriert ist, bei der Entscheidung im Asylverfahren? Oder geht es nur um die Gefährdung im Herkunftsland?

Beides. Natürlich ist im Asylverfahren entscheidend, aus welchem Grund Sie nach Deutschland gekommen sind. Gleichzeitig müssen Sie innerhalb des Verfahrens nachweisen, was sie für Ihre Integration geleistet haben – ob Sie einen Sprachkurs besucht haben, ob Sie regelmäßig an ihren Terminen teilgenommen haben, ob Sie sich bemüht haben, eine Arbeit zu finden, ob sie also, ganz generell, integrationsfähig sind. Dieser Nachweis muss erbracht werden, um überhaupt erst einmal eine gewisse Form von Aufenthalt zu bekommen. Aber das ist noch keine letztendliche Entscheidung. Nehmen wir nochmal diesen jungen Menschen aus Afghanistan, er ist zuverlässig, spricht gut Deutsch, kann gut lesen und schreiben. Ein Unternehmen will mit ihm einen Ausbildungsvertrag schließen. Aber eine Ausbildung zu machen, bedeutet noch nicht, dass der Jugendliche auch eine „Ausbildungsduldung“ bekommt, dafür gibt es weitere Hürden und Stolpersteine. Und deshalb lesen wir manchmal in Zeitungen, dass gut integrierte Menschen trotz Arbeit abgeschoben werden. In Extremfällen kann es sich bis zu sieben Jahre hinziehen, bis die jungen Menschen wissen, ob sie in Deutschland bleiben können oder nicht.

So lange in Unsicherheit zu leben, ist natürlich gerade in dieser Lebensphase schwer. Es ist ja eine sehr prägende Zeit. Welche Angebote können Sie für diese Jugendliche machen?

Neben den Einzelberatungen, die wir machen, ist das wichtigste Thema, die Ängste abzubauen. Die Jugendlichen sind sehr unterschiedlich motiviert und bringen sehr unterschiedliche Ressourcen mit. Manche haben eine gute Bildung, sind motiviert, wollen weiterkommen und werden vielleicht auch aus der Sicht der hier Lebenden als gut integrierbar angesehen. Zum Beispiel hatten wir bis voriges Jahre sehr viele Jugendliche, die aus Syrien zu uns gekommen sind, das waren hervorragende Schüler und Schülerinnen, die sehr gute Bildung mitgebracht haben, und von denen viele den Sprung in Ausbildungsbereiche sehr, sehr gut geschafft haben. Bei ihnen gelingt eine sogenannte Integration natürlich viel leichter als bei Jugendlichen, die ein größeres Paket zu tragen haben, die vielleicht erst noch lesen und schreiben lernen müssen, oder die größeren psychischen Belastungen ausgesetzt sind. Unser aller Aufgabe ist, diese Jugendlichen dahin zu motivieren, dass sie in ihrem Lebensweg weiterkommen. Das halte ich für absolut wichtig.

Zumal wir Migration eigentlich brauchen, gerade von jungen Menschen. Wie beobachten Sie denn diese Diskussion? Ist es legitim zu sagen, wir schauen uns Migration auch auf dem Hintergrund an, welche Leute wir hier in Deutschland wegen des Fachkräftemangels benötigen?

Nicht in Bezug auf Geflüchtete, das Asylrecht ist etwas anderes. Aber was Migration generell betrifft, schon. Tatsächlich ist es merkwürdig, dass wir immer über Fachkräftemangel klagen, aber gleichzeitig so wenig dort investieren wollen. Die Sprachkurse sind dafür ein gutes Beispiel. Bis 2024 hatte die Bundesregierung geplant, den Etat für Sprachkurse hochzufahren. Aber jetzt haben wir komplette Mittelkürzungen in diesem Bereich, obwohl wir sehr, sehr viele Menschen haben, die hier in Deutschland leben und genau auf diese sprachliche Bildung angewiesen wären. Das passt einfach nicht zusammen. Wenn ich Jugendliche dahin begleite, dass sie ihre Sprachkurse zu Ende bringen, kann ich sie natürlich viel besser in Arbeitsmaßnahmen integrieren. Wenn wir den Jugendlichen sagen müssen, dass wir nicht genug Sprachkurse haben, dass die Maßnahmen überall gekürzt werden, dass sowieso viele abgeschoben werden und so weiter – all diese Diskussionen bekommen die Jugendlichen ja mit. Sie merken, dass sie nicht gewollt sind. Und dann stellen sie natürlich die Frage, warum machen sie das alles. Diese Ambivalenz merken wir täglich in unserer Arbeit.

Gibt es einen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen beziehungsweise zwischen jungen Frauen und jungen Männern? In der Debatte wird ja insbesondere eine Angst vor jungen migrantischen Männern geschürt.

In unserer alltäglichen Beratung sehen wir kaum Unterschiede zwischen jungen Männern und Frauen. Sie alle kommen, weil sie unseren Rat brauchen, Hilfe und Unterstützung. Für sie alle geht es um ihre Existenz, um Aufenthaltsmöglichkeiten und Bildung. Tatsächlich haben wir mehr junge Männer, die uns aufsuchen als junge Frauen, das Verhältnis ist ungefähr 60 zu 40, würde ich sagen. Sie sind gleichermaßen motiviert, sie wollen lernen und sie wollen etwas aus ihrem Leben machen. Für beide Geschlechter ist es wichtig, dass die Verfahren beschleunigt werden, damit ihre Perspektive klarer ist. Denn es ist ja wirklich unsinnig, dass Menschen so viel Energie über Jahre in etwas hineinstecken, das dann am Ende doch nichts wird.

Gibt es Hoffnungen drauf, dass diese Perspektiven sich schnell klären könnten?

Schwierig. Am besten wäre es, junge Menschen nach dem Sprachkurs sofort in Arbeitsmaßnahmen, Ausbildungsmaßnahmen, berufliche Qualifikationen zu integrieren. Sprache und Arbeit sind der beste Weg zur Integration. Die Menschen fühlen sich dann aufgehoben, sie haben das Gefühl, dass sie ernst genommen werden, und sie fühlen sich auch als Teil der Gesellschaft. Sie haben dort Kontakte zu anderen Leuten, sie lernen mit der Zeit, dass sie etwas wert sind, das Selbstwertgefühl steigt, und sie haben das Gefühl, hier eine Stimme zu haben. Und das ist sehr, sehr wichtig für junge Menschen. Denn sie wollen ja im Leben weiterkommen. Aber dieser Weg wird sehr steinig, wenn man nach jedem Abschnitt wieder einen Ablehnungsbescheid bekommen kann und man nie weiß, ob man überhaupt in Deutschland bleiben kann. Momentan werden die jungen Menschen durch das Verfahren demotiviert und müssen sich immer selber wieder neu motivieren, den nächsten Schritt zu gehen. Wir dürfen ja auch nicht vergessen, dass junge Menschen sehr oft auch alleine sind. Es gibt viele junge Geflüchtete, die allein eingereist sind. Gleichzeitig haben sie ja den Weg hierher geschafft, es sind also selbstständige Menschen. Aber wenn wir dann so eine ambivalente Debatte führen über Integration und Migrationsfähigkeit, stellen sie sich auch die Frage: Bin ich überhaupt in diesem Land richtig? Was mache ich hier? Ich möchte eigentlich weiterkommen. Ich möchte eigentlich arbeiten. Ich möchte ein Teil dieser Gesellschaft sein. Ich möchte meine Familie gründen. Das sind ja alles existenzielle Fragen.

Welche beruflichen Wege gehen die jungen Leute? Kommen die Arbeitgeber gut mit ihnen zurecht? Sind sie begehrt auf dem Arbeitsmarkt?

Wir haben schon viele tolle Sachen erlebt. Zum Beispiel gibt es Jugendliche, die im medizinischen Bereich sehr erfolgreich sind. Ich kenne jemanden aus unserem ersten Jahrgang der Jugendkurse, der heute gelernter Zahntechniker ist, eine Familie gegründet hat und hier in Deutschland lebt. Im Bereich von Hotel und Gastronomie gibt es viele, die sehr gut integriert sind. Im Bereich von Ausbildung gibt es Arbeitgeber, die auf uns zugekommen sind und sofort die jungen Menschen noch während des Sprachkurses unter Vertrag genommen haben. Aber auch über unsere Bildungsberatungsstelle, die zuständig ist für akademische Zugänge, haben wir junge Menschen, die zum Beispiel hier nochmal ein externes Abitur abgelegt haben und dann studieren konnten.

Frau Holstein, vielen Dank für das Gespräch


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Antje Schrupp 245 Artikel

Dr. Antje Schrupp ist Chefredakteurin des EFO-Magazins. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com Mastodon: @antjeschrupp@kirche.social

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