Leben & Alltag

Der Tod der anderen

Wenn ein Mensch stirbt, hinterlässt der Tod oft eine große Lücke im Leben der Angehörigen. Sie müssen mit dem Verlust fertig werden. Die Personalkirchengemeinde Nord-Ost in Frankfurt gründete vor fünf Jahren ein Trauercafé, um Menschen dabei zu helfen, diesen Prozess zu bewältigen und wieder nach vorne blicken zu können.

Beim Trauercafé im Frankfurter Ostend finden Menschen, die jemanden verloren haben, Gleichgesinnte zum Austausch, aber auch konkrete Hilfe und Unterstützung. | Foto: Rolf Oeser
Beim Trauercafé im Frankfurter Ostend finden Menschen, die jemanden verloren haben, Gleichgesinnte zum Austausch, aber auch konkrete Hilfe und Unterstützung. | Foto: Rolf Oeser

„Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang, nur vor dem Tode derer, die mir nah sind. Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?“ schrieb die jüdische Dichterin Mascha Kaleko 1945 in ihrem Gedicht Memento. Auf dem Weg zum Trauercafé der evangelischen Nord-Ost-Gemeinde im Frankfurter Ostend kommen mir diese Zeilen in den Sinn.

Im Gemeindehaus herrscht Stille. Ich weiß nicht wohin, und steige die Stufen hinauf in den ersten Stock. Ich schaue mich um - aus einem Raum tönt einladendes Geschirrgeklapper, Stimmengewirr und Gelächter. Beinahe hätte ich den Hinweis an der geöffneten Tür übersehen – „Trauercafé“. Ich schaue mich um. Der Raum mit Teppichboden strahlt bescheidene Behaglichkeit aus, ein umfangreiches Buffet lädt zu Kaffee und Kuchen ein.

Etwa 25 Männer und Frauen verschiedenen Alters sitzen an den vollen Tischen, dekoriert mit pinkfarbenen Gerbera und rosa Teelichtern. Die meisten unterhalten sich, manche sind ganz aufgekratzt und voll der Wiedersehensfreude, lachen und plaudern. Andere sitzen still oder beteiligen sich zaghaft am Tischgespräch. Eine Frau fällt mir auf. Sie hat dunkle Ränder unter den Augen, Arme und Beine verschränkt, blickt sie zu Boden. „Heute sind ein paar zum ersten Mal hier, die Trauer ist noch frisch“, erklärt mir Pfarrer Andreas Hannemann.

Jeden ersten Samstag im Monat von 10 bis 12 Uhr lädt die Nord-Ost-Gemeinde Menschen ins Gemeindehaus in der Wingertstraße 15-19 ein, die jemanden verloren haben, die trauern und die Hilfe suchen, um den Schmerz zu bewältigen, die Gedanken zu sortieren, oder auch um mit Schuldgefühlen umzugehen. Für all das gibt es im „Trauercafé“ ein offenes Ohr.

Das Bild der Friedenstaube hängt neben dem Flipchart

Christa Velte, die seit einigen Jahren ehrenamtlich in der Nord-Ost-Gemeinde tätig ist, leitet derzeit das Trauercafé. Der Tod einer allein stehenden Freundin, die sie über mehrere Wochen beim Sterben begleitete, gab für sie persönlich den Anstoß, sich beim gemeindlichen Trauercafé zu engagieren. Für das heutige Treffen hat sie das Thema „Frieden“ als Leitmotiv gewählt. Es wird still im Raum. Sie liest die Jahreslosung. Das Bild einer Friedenstaube hängt neben ihr am Flipchart.

Sozusagen als Aufwärmübung lässt Christa Velte sich frei assoziierte Begriffe zum Thema Frieden von den Besucherinnen und Besuchern zurufen und schreibt sie an das Board. Sie weiß, was sie tut. Als ehemalige Lehrerin bringt sie viel Erfahrung für Arbeit mit Gruppen mit. „Sie dürfen hier ganz offen ihre Trauer leben, so wie Sie es fühlen, wie Sie es brauchen“, sagt sie schließlich und ermutigt die Anwesenden sich mit ihren Tischnachbarn auszutauschen oder auch mit den professionellen Mitarbeitenden zu sprechen.

Pfarrer Andreas Hannemann ist auch manchmal beim Trauercafé anwesend, auf Wunsch steht er als Seelsorger und Ansprechpartner zur Verfügung. Ob es um soziale oder bürokratische Fragen geht, die bewältigt werden müssen oder ob es zu erkennen gilt, wenn jemand in seiner Trauer feststeckt und weitergehende psychologische Hilfe benötigt – die Männer und Frauen, die das Trauercafé-Team bilden, ergänzen sich mit ihren Fähigkeiten und Kompetenzen.

Raum für Zwiegespräche, Tränen, Segen

Hinter einer Stellwand im hinteren Teil des Raumes befindet sich noch ein einzelner Tisch. Außer Blumen und Kerze stehen noch ein Holzkreuz und eine Engelsfigur aus hellem Stein darauf. Geschützt vor Blicken kann man sich hier auch zum Zwiegespräch zurückziehen, weinen, ein Gebet sprechen oder sich segnen lassen.

Die Idee, ein „Trauercafé“ zu gründen, hatte ursprünglich Jaqueline Leifert. Die 43 Jahre alte Justizfachwirtin engagiert sich seit rund elf Jahren ehrenamtlich in der Nord-Ost-Gemeinde. Als Jaqueline Leiferts Vater starb, suchte sie für ihre trauernde Mutter in deren Heimat in Süddeutschland eine Trauergruppe oder ähnliches, wovon sie sich Trost und Zuspruch für ihre Mutter erhoffte. Aber sie fand nichts dergleichen.

Die Idee für ein solches Angebot allerdings ging ihr nicht aus dem Kopf, und so schlug sie dem Diakonieausschuss ihrer Gemeinde vor, ein Trauercafé zu eröffnen. Ausgewählte Ehrenamtliche der Gemeinde machten eine einjährige Schulung zur Trauerbegleitung, Pfarrer Andreas Hannemann und das Trauercafé-Team bereiteten alles gut vor, dann ging es los. Zuerst seien nur wenige Menschen ins Trauercafé gekommen erzählt Leifert, schließlich mehr und mehr. Jaqueline Leifert leitete die Treffen, und zusammen mit ihrem Team half sie seitdem Menschen, ihre Trauer zu verarbeiten, wieder Halt zu finden.

Dann starb ihr Mann, völlig unerwartet

Und dann starb ihr Mann. Völlig unerwartet an einem ganz normalen Tag an einer Lungenembolie zu Hause. Nur noch eine SMS mit der Nachricht, es gehe ihm nicht gut, blieb ihr. Der damals 13 Jahre alte Sohn fand seinen Vater, bevor sie selbst in der Hektik des Alltags Gelegenheit hatte, ihrem Mann überhaupt zu antworten. Das war am 10. November 2017. Bis heute versucht sie neben der eigenen Trauer vor allem ihrem Sohn zu helfen, wieder nach vorne blicken zu können, den Verlust zu verarbeiten.

Leiferts Arbeit im Trauercafé übernahm dann ihre Kollegin Christa Velte für sie. Die eigene Trauer, ihre pflegebedürftigen Schwiegereltern und die Herausforderung, das Leben neu zu ordnen, fordern Leiferts ganze Energie. „Gott sei Dank habe ich einen großen Freundeskreis – privat und in der Gemeinde“, sagt sie. Auf die Frage, woher sie ihre Kraft nimmt, zögert sie nicht. „Ganz viel aus meinem Glauben und zu wissen, dass mein Mann auch geglaubt hat“, antwortet sie. Doch das Wichtigste sei, dem Schmerz nicht auszuweichen, den der Tod eines geliebten Menschen auslöst. „Wunden lecken, Tränen weinen, alle Gefühle durchleben und aushalten, das ist im Trauerprozess entscheidend", weiß sie jetzt auch aus eigener Erfahrung.

Jaqueline Leifert will demnächst ihre ehrenamtliche Arbeit als Trauerbegleiterin in der Nord-Ost-Gemeinde wiederaufnehmen. Allerdings vielleicht mit einem neuen Projekt, das die Gemeinde umsetzen möchte. Eine Art Stammtisch für Menschen, die die größte Trauer hinter sich haben, die wieder nach vorne blicken können und Mut haben, Neues in Angriff zu nehmen.

Mascha Kalekos Gedicht endet mit den Worten „Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der anderen muss man leben.“ Mir aber gehen auf dem Heimweg andere Worte vom heutigen Termin nach. „Ich persönlich habe die Hoffnung, dass es mehr gibt, als das, was wir sehen“, sagte Pfarrer Andreas Hannemann zu mir zum Abschied. Das nehme ich gerne mit.

Das Trauercafé öffnet immer am ersten Samstag im Monat. Die nächsten Termine sind am 2. März und 6. April von 10 bis 12 Uhr im Gemeindehaus, Wingertstraße 15-19, 60316 Frankfurt. Kontakt: Christa Velte, Telefon 069 34059249, E-Mail: christa.velte@gmx.de

Konzert "Trauer in Töne übersetzt" am 9. Februar 2019


Autorin

Sandra Hoffmann-Grötsch ist Journalistin in der Öffentlichkeitsarbeit der Evangelischen Kirche in Frankfurt und Offenbach.

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