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Ein gutes Gefühl


Mit dem Projekt „Vielfalt stärken – Vielfalt leben" fördert die Diakonie Frankfurt und Offenbach Inklusion von Anfang an – Paul und seine Familie profitieren auch davon. Eine Veranstaltung informiert über das Konzept.

Mittendrin groß werden - darum geht es  I Foto: Unsplash
Mittendrin groß werden - darum geht es I Foto: Unsplash

Paul hört Musik. Seine Mama Karin Kraus (alle Namen geändert) sitzt am Küchentisch und erzählt, wie sie und ihr Mann vor vier Jahren, gerade neu in Frankfurt, Kita-Plätze für ihre beiden Kinder suchten. Bei Paul schrieben die Eltern damals auf der Anmeldeplattform kindernetfrankfurt noch ein Wort dazu: „Förderbedarf“.

Paul wippt im Takt, während Karin Kraus von den „massiven epileptischen Anfällen“ berichtet, die er als acht Monate altes Baby hatte. „Er wurde mit Medikamenten eingestellt und war danach anfallsfrei, aber wir merkten, dass er sich verzögert entwickelt.“ Für die Eltern war das kein Hinderungsgrund, sondern ein Ansporn, ihn in der Krabbelstube anzumelden: „Wir wussten von unserer älteren Tochter, dass Kindern das Spielen mit Gleichaltrigen gut tut. Paul guckte sich schon viel von ihr ab und wir dachten, es tut ihm gut, wenn er mit seiner starken motorischen Verzögerung mit anderen Kindern zusammen ist.“ Als Paul anderthalb Jahre alt war, gingen beide Eltern wieder arbeiten. „Die Eingewöhnung in der Kita lief ganz normal ab“, sagt Kraus, „in den ersten Wochen weinte Paul viel, wir haben uns extra viel Zeit gelassen und ihn noch eine Weile früher abgeholt“. Irgendwann machte es Klick, von da an ging er „unheimlich gerne“ hin.

Karin Kraus hatte gleich „das Gefühl, dass die Kita-Leiterin Paul behandelte wie jedes andere Kind auch. „Klar, sprach sie viel mit den Erzieherinnen“, auch darüber, was bei einem epileptischen Anfall zu tun wäre, doch der trat nie ein. Auch später nicht, als die Medikamente abgesetzt wurden. Karin Kraus vermutet, dass die Erzieherinnen anfangs in Sorge waren, dass der Inklusionsprozess sehr anstrengend wird. „Aber im Nachhinein sagen alle, dass es überhaupt kein Problem war.“ Wären die epileptischen Anfälle wieder aufgetreten, hätten beide Eltern ihre Arbeitszeit stärker reduziert. So gehen sie arbeiten, weil es Spaß macht und auch, weil zwei Verdienste zum Leben nötig sind. Den Rücken hatten sie dafür frei, denn in der Krabbelstube „lief alles super“. Paul fand Freunde, der immer gleiche Tagesablauf, das Zusammensein mit anderen Kindern, taten ihm gut.

Ein neues Thema trat auf, als der Wechsel von der Krabbelgruppe mit zehn, zwölf Kindern in die deutlich größere Kita-Gruppe anstand: „Wir waren uns alle einig, dass er mit drei Jahren noch nicht so weit war, in die große Gruppe mit 24 Kindern zu wechseln.“ Auch hier bot die Kita eine gute Lösung an: Paul durfte ein halbes Jahr länger als regulär in der Krabbelgruppe bleiben, als er dreieinhalb Jahre alt war, wurde für ihn ein Integrationsplatz beantragt und er ging regelmäßig zu Besuch in die Kita-Gruppe im selben Haus. „Dieser Übergang wäre so bei weitem nicht in jeder Einrichtung möglich gewesen“, sagt Karin Kraus. Für Paul war es optimal, mehrere Monate lang zwischen Krabbbelstube und Kita hin und her zu wechseln. „Morgens ging er in die Krabbelgruppe, mittags aß er in der Gruppe mit den über Dreijährigen und zum Schlafen ging er in die alte Gruppe zurück, das war sehr, sehr toll.“ Mit vier Jahren war Paul der Krabbelgruppe entwachsen, „der Wechsel klappte wie im Flug“, sagt seine Mama lächelnd, „das kam durch die gute Vorarbeit, das war eine feine Sache.“

Pauls Wechsel von der Krabbel- in die Kita-Gruppe begleitete das Projekt „Vielfalt stärken – Vielfalt leben“ des Diakonischen Werkes für Frankfurt und Offenbach. Dabei entwickelten alle gemeinsam Ideen, wie der Übergang sowohl für das Kind, als auch für die Einrichtung am besten zu gestalten ist.

Pauls Familie hatte die Erfahrung gemacht, dass die Unterschiede im Tempo der Entwicklung in der Krabbelgruppe weniger deutlich waren als bei den über Dreijährigen. „Es ist gut, dass sich die Kita in dieser Phase Unterstützung geholt hat“, sagt Rita Boller. Sie hat das Inklusionsprojekt „Vielfalt stärken – Vielfalt leben“ beim Diakonischen Werk für Frankfurt und Offenbach ins Leben gerufen. Sie sagt: „Inklusion bedeutet auch, dass nicht jede Kita alles können muss, sondern sich jederzeit die passende Unterstützung holen kann.“

Karin Kraus schlussfolgert, „insgesamt ist das alles sehr positiv verlaufen“. Nun geht die Familie auf das nächste Ziel zu, den Übergang in die Schule. Nächstes Jahr müssen die Eltern Paul anmelden. Leicht wird das nicht, die Prognosen der Ärzte gehen weit auseinander.

Hintergrund und Veranstaltungshinweis

Kinder unter drei Jahren mit und ohne Handicap spielen und lernen gemeinsam – dafür steht das Projekt „Vielfalt stärken – Vielfalt leben“ des Diakonischen Werkes für Frankfurt und Offenbach. Noch ist es nämlich nicht selbstverständlich, dass Kitas Kinder unter drei Jahren mit Beeinträchtigungen aufnehmen. So gab es 2016 in Frankfurt am Main insgesamt 8.771 Krabbelstubenplätze, davon waren lediglich 43 für Kinder mit Handicap vorgesehen. Auch Eltern wünschen sich mehr Plätze für ihre Kleinkinder mit Beeinträchtigungen. „Langfristig müssen alle Krabbelstuben einen bedarfsgerechten Zugang für Kinder mit Behinderung schaffen, das schreibt das Bundesteilhabegesetz vor“, sagt Rita Boller. Sie hatte das hessenweit einmalige Leuchtturmprojekt 2015 konzipiert und leitet es bis heute.

„Vielfalt stärken – Vielfalt leben“ unterstützt ein ganzes Jahr lang Kitas, die ein Kind unter drei Jahren mit Handicap aufnehmen. Im Frühjahr 2020 beginnt die vierte Runde, bis zu 15 Kitas aus Frankfurt und Offenbach können sich für die Förderung anmelden, vier Kitas haben dies bereits getan. Vier Netzwerktreffen aller beteiligten Teams gehören ebenso zum Programm, wie zehn Stunden Hospitation und Beratung in der Einrichtung pro Quartal.

„Anfangs herrscht in vielen Kita-Teams die Sorge vor einer Mehrbelastung und auch Berührungsängste sind da“, sagt Rita Boller. „Durch unsere Begleitung wächst das Gefühl, nicht alleine zu stehen bei der neuen Aufgabe.“ Die Erfahrungen von inzwischen 33 Frankfurter Kitas zeigen: „Alle waren begeistert, sie erlebten, dass Inklusion das Miteinander im Team stärkt und die Arbeitszufriedenheit wächst. Alle wollen weiter Kinder mit Handicap aufnehmen.“

So manche Kita kam dabei auf pfiffige Lösungen, ein Team konstruierte etwa mit einfachen Mitteln selbst einen Stuhl, der verhindert, dass ein Kind vom Sitz rutscht: „Sie sägten auf der Sitzfläche einen Kreis aus und steckten einen runden Bauklotz hinein“, sagt Rita Boller und lächelt.

Bisher beteiligten sich Kitas verschiedenster Träger wie Caritas, Johanniter, Jüdischer Gemeinde und der Stadt Frankfurt am Main. Für alle Kitas ist die Teilnahme an „Vielfalt stärken – Vielfalt leben“ kostenfrei. Zunächst wurde das Inklusionsprojekt von der „Aktion Mensch“ gefördert, im vergangenen Jahr unterstützten es das Jugend- und Sozialamt sowie das Stadtschulamt der Stadt Frankfurt am Main. Die vierte Projektrunde fördern die Share Value Stiftung sowie die Dr. Herbert Münzer-Stiftung, ein Drittel der Projektkosten trägt das Diakonische Werk selbst.

Interessierte Kindertageseinrichtungen U3 aus Frankfurt und Offenbach sind herzlich eingeladen, an der Informationsveranstaltung zu „Vielfalt stärken – Vielfalt leben“ am Donnerstag, 20. Februar 2020, 15.30 bis 17.30 Uhr, im Diakonischen Werk für Frankfurt und Offenbach, Kurt-Schumacher-Straße 31, Frankfurt, teilzunehmen. Anmeldung unter Telefon 069 24751494006 oder E-Mail: rita.boller@diakonie-frankfurt-offenbach.de


Autorin

Susanne Schmidt-Lüer ist Mitglied der Stabsstelle Kommunikation, Marketing und Fundraising des Evangelischen Regionalverbandes Frankfurt und Offenbach. Sie schreibt auch als freie Autorin, vor allem über Sozialpolitik, Kirche, Alter und wirtschaftspolitische Themen.