Kontroverse: Soll man gegen die Radikalisierung von Jugendlichen mit oder ohne Religion vorgehen?
Es versprach spannend zu werden, und die etwa 80 Zuhörerinnen und Zuhörer im Haus am Dom wurden nicht enttäuscht: Muss man radikalisierte Jugendliche bei Ihrer islamischen Religiosität abholen oder handelt es sich um eine rein sozialpädagogische Fragestellung? Schnell stellte sich heraus, dass ganz unterschiedliche Vorstellungen dazu vertreten wurden. „Der Drang nach Religiosität und Spiritualität der Jugendlichen darf nicht ignoriert werden“, forderte Hakan Çelik, Koordinator des Vereins VPN (Violence Prevention Network) in Hessen. „Religiosität darf nicht als gefährlicher Fremdkörper wahrgenommen werden, sie gehört zur Sinnsuche der Jugendlichen, man muss konstruktiv damit umgehen.
Meron Mendel, der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, hielt dagegen: „Wir arbeiten mit heterogenen Gruppen, wir sprechen keine Gruppierung oder Religion direkt an.“ Religion zu thematisieren führe möglicherweise erst zu Ausgrenzung und Radikalisierung, so seine Erfahrung, auch im Umgang mit rechtsextremen Jugendlichen. Es gälte, nicht einzelne Gruppen herauszugreifen, sondern durch allgemeine politische Bildungsarbeit Prävention zu betreiben und Gewaltbereitschaft zu verhindern. Dazu gehöre, dass die Jugendlichen Themen wie Menschenrechte, Gewaltenteilung, Rassismuserfahrungen oder Ausgrenzung gemeinsam mit Angehörigen anderer Religionen erarbeiten.
Allerdings könne das auch ein Unterschied zwischen Prävention, also vorbeugender Arbeit, wie sie die Bildungsstätte Anne Frank macht, und Intervention sein, also einem Angebot, das wie das VPN dort ansetzt, wo Jugendliche bereits radikale Ansichten haben. Immer wichtiger, so Mendel, werde jedenfalls die Arbeit mit Lehrkräften und Pädagogen: „Vielen fehlen im Umgang mit gefährdeten Jugendlichen die Kenntnisse und das pädagogische Werkzeug, sie sind einfach überfordert.“ Neue Projekte seines Hauses seien daher sozialpädagogische Angebote für Betriebe oder die Schulung und Begleitung des Personals in Kindertagesstätten.
Die Notwendigkeit einer breiten Trägerlandschaft in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit betonte auch Lisa Gnadl, Landtagsabgeordnete der SPD und Mitglied im Innen- sowie im Sozialausschuss des Hessischen Landtags in Wiesbaden: „Um Radikalisierung zu vermeiden, müssen wir stärker für positive Bildungsbiografien arbeiten, die Demokratie-Erziehung in der frühkindlichen Bildung, im schulischen und außerschulischen Bereich ausbauen“, so die Politikerin.
Für Hakan Çelik und den Verein VPN, der mittlerweile vor allem in Gefängnissen arbeitet, „kommt Bindung vor Bildung“. Für die Sozialpolitikerin Gnadl und Meron Mendel steht die sozial-pädagogische Arbeit einer möglichst breiten Träger-Landschaft im Bildungswesen im Vordergrund. „Wir brauchen interkulturell und interreligiös mehr und besser ausgebildete Pädagogen“, so Lisa Gnadl. „Im schulischen und außerschulischen Bereich. Sonst werden wir es nicht schaffen.“ Auch Kultus- und Sozialministerium müssten da enger zusammenarbeiten.
Eindrucksvoll wurde das unterstrichen durch die Beiträge aus dem Publikum: „Bei 19,5 Wochenstunden für eine Schule komme ich gar nicht erst zur Extremismusprävention“, sagte etwa eine Schulsozialarbeiterin.
Veranstaltet wurde der Abend vom Hessischen Forum für Religion und Gesellschaft.