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Abschied nach neun turbulenten Amtsjahren

Coronakrise, Ukrainekrieg, aber auch Reformationsjubiläum und die Fusion von Frankfurt und Offenbach zu einem gemeinsamen evangelischen Stadtdekanat – die Amtszeit von Achim Knecht als Stadtdekan war von vielen markanten Ereignissen geprägt. Im EFO-Interview zieht er Bilanz und spricht über die bleibende gesellschaftliche Bedeutung der Kirche, auch angesichts vieler Herausforderungen.

Stadtdekan Achim Knecht bei der Tagung der Stadtsynode im April. | Foto: Rolf Oeser
Stadtdekan Achim Knecht bei der Tagung der Stadtsynode im April. | Foto: Rolf Oeser

: Das gesamte Interview als Podcast:


Herr Knecht, Sie waren fast neun Jahre lang Stadtdekan. Was war das „Highight“ und was das „Lowlight“ Ihrer Amtszeit, also das Beste und das Schlimmste, was Sie erlebt haben?

Das Schlimmste war sicherlich die Coronapandemie. So etwas konnte man sich ja definitiv nicht vorstellen, das war gesellschaftlich und für das kirchliche Arbeiten ein massiver Einschnitt. Ich bin wirklich froh, dass wir darüber hinweg sind. Der zweite Tiefpunkt ist die Sachlage, die sich durch den Ukrainekrieg ergeben hat. Dass wir mitten in Europa Zeuge und mitbetroffen werden von einem brutalen Angriffskrieg, in dem es darum geht, ein anderes Volk zu unterjochen, das hätte man sich so eigentlich nicht vorstellen können. Wenn ich auf die neun Jahre zurückschaue, waren das schon zwei enorm belastende Ereignisse, die uns auch als Kirche in Mitleidenschaft gezogen und vor starke Herausforderungen gestellt haben.

Zum Ukrainekrieg haben Sie sich früh klar geäußert. Ich kann mich an die erste Friedensdemo hier in Frankfurt erinnern, bei der Sie auf der Bühne gesprochen haben und für das Recht der Ukraine eingetreten sind, sich auch militärisch zu verteidigen, eingetreten sind. Weil die ganz simple Friedensethik, die sich auf den Appell „Legt die Waffen nieder“ beschränkt, nicht funktioniert?

Ja, das funktioniert nicht, weil man immer überlegen muss, was so eine Forderung konkret bedeutet und befördert. In der kirchlichen Friedensbewegung seit den 1980ern ging es sehr stark darum, das Recht der Schwachen gegenüber dem Recht des Stärkeren stark zu machen. Es ging darum, eine internationale Friedensordnung zu schaffen, bei der das Gewaltmonopol letztlich durch internationale Polizeikräfte durchgesetzt wird. Aber heute Gewaltfreiheit von der Ukraine zu fordern, die sich notgedrungen gegen die Aggression eines Stärkeren verteidigt und dabei auch das Völkerrecht verteidigt, das geht nicht. Bei kirchlicher Friedensethik geht es um beides: um Frieden und Gerechtigkeit. Bloßer Friede ohne Gerechtigkeit auch für den Schwächeren, ist kein Friede im Sinne des biblischen Schalom. Wir haben das oft in Bezug auf Wirtschaft und Soziales debattiert, aber es gilt auch in diesem Konflikt. Es geht um Respekt vor dem Recht, das verteidigt werden muss. Ich bin sehr gespannt, wie die kirchliche Debatte in den nächsten Jahren dazu weitergehen wird.

Zumal prominente evangelische Theolog:inneneine andere Position vertreten, zum Beispiel Margot Käßmann oder auch Bischof Friedrich Kramer, der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, die beide gegen Waffenlieferungen sind und für versöhnliche Töne in Richtung Russland eintreten. Wie war es denn für Sie, sich als Stadtdekan so klar zu positionieren?

Meine Rede auf dem Opernplatz ist damals mit viel Zustimmung aufgenommen worden. Es war für mich spannend, bei welchen Passagen der Beifall aus der einen und dann aus der anderen Ecke kam, respektive auch die Buhrufe. Das hat mich darin bestärkt, dass es wichtig ist, eine differenzierte Haltung einzunehmen, nicht dogmatisch zu sein, sondern ethisch abzuwägen. Dafür stehe ich auch weiterhin. Wir hatten kürzlich in unserem Ausschuss für gesellschaftliche Verantwortung eine interessante Debatte genau um diese Fragen, und dabei hat sich gezeigt, wie viel Drive in diesem Thema immer noch drin ist. Ich bin der Meinung, dass es wichtig ist, die eigenen ethischen Grundüberzeugungen gegenzulesen mit dem, was sie für betroffene Menschen konkret bedeuten. Ich hatte in den vergangenen Jahren immer wieder Kontakt zur ukrainischen Community, zum Beispiel bei Gedenkgottesdiensten zum Holodomor, also der Hungerkatastrophe in den 1920er und 1930er-Jahren, und bevor ich Stellung beziehe, frage ich mich: Könnte ich ihnen das ins Gesicht sagen? Ich denke, es war auch diese Überlegung, die mich zu einer eher differenzierten Position geführt hat und auch dazu, bestimmte Überzeugungen, die ich in jüngeren Jahren vertreten hatte und die ja auch nicht völlig verkehrt sind, trotzdem noch einmal zu überdenken aufgrund einer veränderten Situation.

An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass traditionell christliche ethische Positionen in breiten Teilen der Gesellschaft diskutiert werden, auch wenn der Einfluss der Kirche als Institution vielleicht zurückgeht. Gerade die christliche Friedensethik ist doch sehr prägend, auch für Menschen, die sich selbst eher als säkular verstehen.

Das habe ich auch beobachtet. Wenn man über die Zukunft der Kirche und ihre Bedeutung nachdenkt, geht es ja weniger um die Kirche als Institution als vielmehr um ihre Botschaft. Und man kann schon sagen, dass in unserer Gesellschaft christliches Gedankengut an vielen Stellen geteilt wird. Nicht überall, aber doch an viele Stellen, und gerade bei friedensethischen und politischen Fragen reicht das sehr weit in säkulare Bereiche hinein. Es ist mir als Stadtdekan auch immer wichtig gewesen, dass die Kirche anschlussfähig an gesellschaftliche Debatten ist. Dass wir in der Kirche gesellschaftliche Debatten und die Expertise und Kompetenz der säkularen Gesellschaft ernst nehmen und nicht denken, wir hätten die Wahrheit gepachtet.

Das wird ja auch angesichts der sinkenden kirchlichen Mitgliederzahlen dringlicher.

Ja. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass wir an vielen Stellen Dinge, die uns von unserer Botschaft her wichtig sind, zukünftig mit Menschen verwirklichen müssen, aber auch können, die nicht Mitglieder der Kirche sind oder nicht unseren Glauben, unseren weltanschaulichen Über- oder Unterbau teilen, sondern säkular unterwegs sind. Die aber Lust haben, an einer bestimmten Stelle, in dem Fall zum Beispiel im Hinblick auf Frieden und Gerechtigkeit, mit der Kirche zusammenzuarbeiten oder ihre Ziele im Kontext der Kirche zu verwirklichen. Das wird an der Friedensfrage deutlich, aber es gilt auch in vielen anderen Bereichen.

Flüchtlinghilfe oder Klimaschutz wären zwei andere Themen, bei denen das offensichtlich ist.

Ja, genau.

Apropos Klimaschutz: Werden die Kirchen denn im kommenden Winter wieder nicht geheizt?

Persönlich trage ich für diese Frage dann keine Verantwortung mehr. Aber ich bin der Meinung, dass wir nicht zum Status quo ante zurückkehren werden, also dazu, wie wir das vor der Energiepreiskrise gehandhabt haben. Der vergangene Winter war eine heilsame Nötigung, die ökologischen Fragen, die sich bei der Bewirtschaftung großer kirchlicher Gebäude stellen, ernster zu nehmen. Ich glaube, es wird auch da ein differenziertes Bild geben. Die Stadtsynode hat gerade beschlossen, in jedem Fall eine gute kirchenmusikalische Arbeit zu ermöglichen, es wird also im kommenden Winter moderat temperierte Kirchen geben. In welchem Umfang, muss man sehen. Ich bin zuversichtlich, dass das Bewusstsein in den Kirchengemeinden und bei den Verantwortlichen vor Ort gewachsen ist, dass man auch die ökologischen Fragen und nicht nur die Wohlfühlfragen gewichten muss.

Wir haben vor neun Jahren, zu Beginn Ihrer Amtszeit, schon einmal ein Interview geführt, damals zu Ihren Vorhaben. Eines davon war, dass Sie unterschiedliche Gottesdienstformen anstoßen wollten, damit Menschen sich nach Interessen und Vorlieben etwas aussuchen können und nicht jeden Sonntagmorgen in allen Kirchen das Gleiche stattfindet. Das hat nicht so ganz geklappt, oder?

Ja, stimmt. Ich habe das Interview auch nochmal gelesen und dachte, ja schade, das war schön gedacht, aber bisher ist da nicht so viel passiert. Meines Erachtens ist ein differenziertes Gottesdienstangebot aber nach wie vor notwendig, um mehr Menschen zu erreichen. Ich hoffe dabei auf den „Prozess 2030“ der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) mit der Bildung von Nachbarschaftsräumen, in denen Gemeinden zusammenarbeiten. Es soll dabei eine veränderte Struktur der kirchlichen Gemeindearbeit entwickelt werden. In Frankfurt und Offenbach wird es voraussichtlich relativ große Nachbarschaftsräume geben, in der Regel mit mehreren Kirchen, die dann im Rahmen einer gemeinsam verantworteten Gemeindearbeit bespielt werden. Da legt sich die Perspektive einer Ausdifferenzierung unterschiedlicher Gottesdienstformen ja sehr viel mehr nahe als auf der Ebene der einzelnen Gemeinde, wo man sich mit der Nachbargemeinde hätte abstimmen müssen.

Es ist aber auch eine Frage der Konzeption: Versteht man Gemeinde als Ortsgemeinde, wo Menschen aufgrund ihrer Wohnadresse zusammenkommen und sich im Stadtteil verorten? Oder ist Gemeinde etwas, wozu man sich überregional aufgrund von ähnlichen Interessen oder kulturellen Gemeinsamkeiten zusammenfindet? Womöglich ist es auch eine Überforderung, wenn Gemeinden beides gleichzeitig verfolgen sollen.

Ich meine schon, dass die Idee der Nachbarschaftsräume mit dem Vorhaben, die Gemeindearbeit in größeren Kontexten über die bisherige Kirchengemeinde hinaus zu organisieren, in die richtige Richtung geht. Ganz abgesehen davon, und darüber hatten wir ja vor neun Jahren auch schon gesprochen, entspricht das auch der kirchlichen Tradition in Frankfurt. Vor anderthalb Jahrhunderten war ganz Frankfurt eine Gemeinde mit verschiedenen Kirchen, und die Menschen haben durchaus religiös kulturell ausgewählt, in welchen Gottesdienst sie gehen: Die einen gingen zu einem erwecklichen Prediger, die anderen zu einem liberalen Theologen, aber sie alle gehörten zu einer großen Stadtgemeinde Frankfurt. Dahin kehren wir vielleicht ein Stück weit zurück.

Ja, das könnte doch eine Vision sein: zwei Gemeinden im Dekanat, eine in Frankfurt, eine in Offenbach. So groß ist das Gebiet der beiden Städte ja auch gar nicht.

Eigentlich nicht. Was aber auch eine Rolle spielt, ist die Frage nach der Beheimatung von Menschen und der Überschaubarkeit von sozialen Strukturen. In Bezug auf Beheimatung wäre ganz Frankfurt dann doch zu groß gegriffen. Aber wir werden, glaube ich, zukünftig stärker unterscheiden zwischen der Kirchengemeinde als rechtlicher Größe und Gemeinden im Sinne einer Gemeinschaft am Evangelium und für das Evangelium, einer Gemeinschaft von Menschen, die sich zusammentun, weil sie gerne miteinander im Auftrag Jesu unterwegs sind. Das kann auf der Ebene eines Stadtteils sein, aber es kann auch im Sinne einer inhaltlichen Aufgabe sein. Schon jetzt bilden die ehrenamtlich Aktiven in vielen übergemeindlichen Einrichtungen, zum Beispiel in der Telefonseelsorge, bei der Notfallseelsorge, im Mentorenprojekt Socius oder im Evangelischen Frauenbegegnungszentrum Formen von Gemeinde. Sie feiern zusammen Gottesdienst, knüpfen tragfähige soziale Beziehungen und so weiter.

Wir hatten unser Interview mit der Frage nach einem Highlight und einem Lowlight angefangen. Das Highlight fehlt noch: Was war das Schönste an Ihrer Amtszeit?

Ach, da gibt es viele verschiedene Highlights, da fällt es mir jetzt schwer, genau eines herauszuheben. Besonders schön war sicher die Erfahrung, wie es gelungen ist, die sogenannte Flüchtlingskrise in 2015 zu bewältigen. Sowohl in der Gesellschaft insgesamt als auch in der Kirche hatten viele Menschen Lust, mitzumachen, auch kirchliche Mitarbeitende haben sich eingebracht, zum Beispiel in den großen Unterkünften. Es war schon ein starkes Erlebnis, zu sehen, dass sich Menschen mit einer gemeinsamen Herausforderung identifizieren und mitwirken, ohne dass das übermäßig zentral organisiert werden musste.

Ein anderes Highlight war das Reformationsjubiläum 2017 zum 500. Jahrestag der Veröffentlichung von Martin Luthers 95 Thesen. Es war schön, wie aus diesem Anlass eine gesellschaftliche Vergewisserung im Hinblick auf einen wichtigen Teil der deutschen Geschichte stattgefunden hat. Unvergessen ist für mich der Anblick der vielen Menschen, die am Reformationstag damals schon lange vor Beginn des Gottesdienstes in einer Schlange bis zum Kaufhof standen und warteten, ob sie vielleicht doch noch in die Katharinenkirche kommen. Sie war halt dafür zu klein. Aber auch die städtische Wahrnehmung dieses Jubiläums, der Empfang in der Paulskirche, die Festveranstaltung auf dem vollen Römerberg, das alles war sehr schön.

Als Highlight meiner Amtszeit würde ich aber auch die ökumenische Zusammenarbeit bezeichnen, die sich in gemeinsamen Kanzelauftritten von Johannes zu Eltz, dem katholischen Stadtdekan, und mir dokumentiert hat.

Sie beide waren ja überhaupt ein gutes Team.

Ja, das glaube ich auch. Unsere Zusammenarbeit war von uns beiden von einem hohen Maß an Bewusstsein der ökumenischen Verantwortung getragen. Uns war klar, dass wir nur zusammen Kirche sein können, alles andere desavouiert sich in der Gesellschaft heutzutage und entspricht auch nicht der Botschaft des Evangeliums. Aber zwischen uns herrschte auch ein hohes Maß an persönlichem Vertrauen, bis hin zu einer freundschaftlichen Beziehung. Das war in jedem Fall tragend in der Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche und insbesondere mit Johannes zu Eltz.

Und dann 2019, also ungefähr in der Mitte Ihrer Amtszeit, sind auch evangelischerseits Frankfurt und Offenbach miteinander fusioniert. Ist die Kirche da vielleicht auch ein Vorbild für die Kommunen?

Zu einer Fusion der beiden Städte Frankfurt und Offenbach wird es noch lange nicht kommen. Bei den politisch Verantwortlichen nehme ich aber wahr, dass inzwischen die Rhein-Main-Region insgesamt schon selbstverständlicher als Rahmen wahrgenommen wird. Die Zugehörigkeit zu Frankfurt und zu Offenbach, das ist im Hinblick auf die Identität der Menschen sehr wichtig. Deshalb war auch der kirchliche Zusammenschluss am Anfang nicht ganz so einfach. Es gehört aber sicher auch zu den Highlights, dass diese kirchliche Fusion doch ziemlichgeräuschlos gelungen ist. Es war anstrengend, aber wir haben die Integration von Offenbach und Frankfurt in eine gemeinsame kirchliche Struktur doch in relativ kurzer Zeit hinbekommen. Und inzwischen ist es doch im Großen und Ganzen sehr selbstverständlich geworden, dass wir eine evangelische Kirche in Frankfurt und Offenbach sind und ich Stadtdekan für Frankfurt und Offenbach.

Sie gehen nun Ende Juli in den Ruhestand. Haben Sie schon Pläne?

Nein. Für mich steht zunächst einmal einfach Nichtstun an. Sicherlich werde ich an der einen oder anderen Stelle auch noch unterstützend tätig sein, aber zunächst einmal gibt es keine großen Pläne. Als Stadtdekan hatte ich doch relativ wenig Muße, es war schon ein sehr voller Terminkalender, den ich hatte, und dieses Amt hat mich auch viel Kraft gekostet. Trotzdem gehe ich auch mit ein bisschen Wehmut, weil ich den Eindruck hatte, dass ich in diesen neun Jahren an der richtigen Stelle war. Ich habe viel Vertrauen genossen und konnte eine ganze Reihe von Dingen voranbringen. Aber es ist jetzt auch einmal gut so, dass meine Arbeit als Stadtdekan abgeschlossen ist, und ich freue mich auf Zeit und Muße zum Lesen, Filmegucken, Sporttreiben, für meine Enkelkinder, für Urlaub und so weiter. Das ist jetzt erst einmal dran.


Autorin

Antje Schrupp 238 Artikel

Dr. Antje Schrupp ist Chefredakteurin des EFO-Magazins. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com Mastodon: @antjeschrupp@kirche.social

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