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So feinfühlig und so stark

Rund ein Viertel der Menschen werden mit einem hochsensiblen Nervensystem geboren. Kompetent mit hochsensiblen Kindern und Jugendlichen umzugehen, ist eine wichtige, aber auch herausfordernde pädagogische Anforderung. Was hochsensible Kinder ­ausmacht, was sie bewältigen müssen und wie Fachpersonal sowie Eltern sie in Kita, Schule und Hort unterstützen können – dazu hat EFOI Fachleute befragt.

Hochsensible Kinder brauchen Pausen und ungeteilte ruhige Aufmerksamkeit, um aufzutanken. / Foto: colourbox.com
Hochsensible Kinder brauchen Pausen und ungeteilte ruhige Aufmerksamkeit, um aufzutanken. / Foto: colourbox.com

Wenn erst das dritte Paar Socken beim morgendlichen Anziehen als erträglich akzeptiert wird und fünf Minuten am Morgen einen Unterschied für den ganzen Tagesverlauf machen. Wenn ein gereiztes Wort eine emotionale Krise heraufbeschwören kann und auch Ungesagtes und Zwischentöne nicht verborgen bleiben, dann ist ein Kind vielleicht hochsensibel. Laut aktueller Forschung werden etwa 20 bis 25 Prozent aller Menschen mit einem hochsensiblen Nerven- und Gefühlssystem geboren. Dies stellt Eltern, Kita und Schule vor Herausforderungen. Die größten Anstrengungen aber müssen die betroffenen Kinder selbst leisten, denn sie wissen oft nicht, warum etwas sie so tief und nachhaltig erschüttert, stresst oder überfordert. Die Datenlast, die ihr Gehirn tagtäglich verarbeiten muss, ist enorm.

Denn alle Sinnesreize wie Riechen, Schmecken, Sehen, Hören und Fühlen werden wie durch ein Brennglas wahrgenommen, sehr stark und nachhaltig erlebt und langsamer verarbeitet als bei normalsensiblen Kindern. Grelles Licht, lautes Stimmengewirr, kann ebenso überfordernd sein wie Hunger, Müdigkeit oder kratzige Socken. Auch emotionalen Stress fühlen hochsensible Kinder besonders stark. Ausgeschimpft, angeschrien, bestraft oder gekränkt zu werden, ist für alle Kinder belastend. Für hochsensible Kinder jedoch sind solche Situationen wie ein emotionales Erdbeben. Wut, Scham, Trauer – sie werden regelrecht geflutet von Gefühlen und erleben nicht selten dann Unverständnis für ihr wütendes Verhalten und ihre Sensibilität. Auf sich allein gestellt, können hochsensible Kinder jedoch nur schwer hilfreiche Regulierungsstrategien entwickeln. Daher ist es von Bedeutung, dass die umgebenden Erwachsenen besonnen und kompetent reagieren und das Kind begleiten, betont Psychologin Mechthild Sckell vom Albert-Schweitzer-Kinderdorf in Hanau. „Wenn ich dich am wenigsten verdiene, brauche ich dich am meisten“ ist daher einer ihrer liebsten Merksätze. Sckell arbeitet auch als Coach und gibt Seminare zum Thema „Bindungsorientierte Erziehung“ im Fortbildungsnetzwerk „Connect“. Laut Sckell

Bindung und Beziehung sind die wichtigsten Werte, die zwei Menschen miteinander teilen können."

geht es vor allem darum, Vorzeichen zu verstehen, gemeinsam mit dem Kind zum Beispiel aus der Wut rauszukommen. Dafür hat Sckell handfeste Tipps: Ein Schluck kaltes Wasser trinken, den Raum wechseln, Gefühle spiegeln und auch körperlich da sein, eine Umarmung anbieten. „Gemeinsam Kurven drehen“, nennt sie das. „Co-Regulation ist das A und O, damit Kinder lernen können, was sie brauchen, um gut mit ihren Gefühlen umzugehen und sich als tröstbar zu erleben“, erklärt Sckell. Das Gefühl des Kindes zu benennen und anzuerkennen, sei dabei schon das wichtigste Werkzeug, um sofort Druck rauszunehmen und das Kind zu entlasten. „Letztlich“, sagt die Psychologin, „geht es doch uns allen so. Wenn wir uns verstanden und angenommen fühlen, senkt das sofort die Anspannung und es wird leichter durchzublicken“. Für hochsensible Kinder seien zudem Pausen, reizarme Rückzugsorte, Kuscheln und einfühlsame Gespräche wichtig. Auch Familientherapeutin Judith Rosner, die seit 15 Jahren die Psychologische Beratungsstelle im Evangelische Zentrum für Beratung in Höchst leitet, erachtet einen bindungsorientierten Ansatz als zentral und unverzichtbar. „Eltern von hochsensiblen Kindern kommen zum Beispiel zu uns in die Beratungsstelle, weil sie Fragen zur Entwicklung ihres Kindes haben oder auch weil sie sich manchmal überfordert fühlen in Konfliktsituation oder mit den Wutausbrüchen.

Wir empfehlen dann, dabei zu reflektieren, wie erlebt es bestimmte Situationen, damit sich Eltern genauer einschwingen können“, erklärt Rosner. Ein nachdrücklich ausgesprochenes „Hör auf“ kann ein hochsensibles Kind als Schreien wahrnehmen, sagt die 54-Jährige. Es sei von ganz entscheidender Bedeutung, dass die Erwachsenen die Wahrnehmung des Kindes ernst nehmen und auf seine Bedürfnisse eingehen – in einem ruhigen Ton. Es helfe nicht, zu behaupten, die Schuhe können gar nicht drücken, wenn das Kind es so empfindet.

Es sei generell hilfreich, sich vor Augen zu halten, dass insbesondere sensiblere Kinder in der Regel alles richtig und es ihren Bezugspersonen recht machen wollen. Für „Fehlverhalten“ gebe es daher immer einen auslösenden Moment. Dorthin zu schauen sei wichtig und helfe, eine Konfliktsituation konstruktiv zu meistern. So lerne das Kind sich selbst immer besser kennen und erfahre sich nicht als „falsch“. Für Ingeburg Hauptmeier, die 45 Jahre lang als Gemeindepädagogin tätig war, ist ihr christlicher Zugang immer ein guter Kompass gewesen. „Man muss jedes Kind annehmen, wie es ist“, sagt sie. Auch sogenannte „schwierige“ Kinder, die vielleicht ein anderes Temperament haben als andere oder anstrengend sind, weil sie gerade in einer schwierigen Situation sind.

Ein Mensch kann nur verstehen, dass er von Gott angenommen ist, wenn er das auch irgendwo erfahren kann. Wenn nicht in Kirche, wo dann? Hochsensible Kinder haben außerdem enorme Fähigkeiten: Sie sind äußerst empathisch, und mit ihren tiefgreifenden Fragen und Gedanken sind sie wunderbare Gesprächspartner:innen. Wenn man versteht, wie sie ticken, kann man Verhalten besser einordnen und die Kinder kompetent begleiten. Nur dann können sie ihr Potenzial entfalten. Die Therapeutin Kathrin Borghoff plädiert dafür, zu realisieren „dass wir kleine Menschen nicht einfach auf das harte Leben, die guten Noten, die Ellenbogenkämpfe und eine Karriere vorbereiten müssen.

Wir haben es mit niemand geringerem zu tun als mit der Gesellschaft von morgen. Was es braucht, um vorausschauend zu denken, innovativ zu erschaffen, mit Bedacht und Empathie auf die Gegebenheiten zu blicken und gefühl- und kraftvoll zu agieren ist: Sensibilität.“

Mitmachen und gewinnen!

9783407847508
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Kathrin Borghoff

ist Expertin für sensible und hochsensible Kinder. Bekannt wurde sie durch Workshops, Vorträge und ihr erstes Buch „Hochsensibel Mama sein“ sowie durch ihren Blog www.oeko-hippie-rabenmutter.de, wo sie zu Familienthemen rund um Bindung und Beziehung schreibt. In ihren Coachings geht es um Hochsensibilität, körperorientierte Entspannungspädagogik sowie traumasensibles Resilienztraining. www.kathrin-borghoff.de

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Wir verlosen drei Exemplare von „So feinfühlig und so stark“ von Kathrin Borghoff. Bitte senden Sie eine E-Mail mit dem Stichwort

„Hochsensibel“ bis zum 31. Januar 2023 an efoi@ek-ffm-of.de

Kathrin Borghoff, So feinfühlig und so stark, Beltz, 20 Euro


Autorin

Sandra Hoffmann-Grötsch ist Journalistin in der Öffentlichkeitsarbeit der Evangelischen Kirche in Frankfurt und Offenbach.