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Eine lange Geschichte von Verfolgung und Ausgrenzung

Der Frankfurter Sozialdezernent nach dem Krieg, Rudolf Prestel, war ein ehemaliger Nazi und führte seine Diskriminierungspolitik gegen angeblich „Asoziale“ in diesem Amt weiter. Im Gesundheitsamt war eine ehemalige „Rassehygienikerin“ für die Menschen im Wohnwagenlager an der Bonameser Straße zuständig. Eine Ausstellung vom 24. Mai bis 9. Juni in der Katharinenkirche macht diese Geschichte von Verfolgung und Ausgrenzung zum Thema.

Herr L. vor seinem Wohnwagen in der Bonameser Straße, Aufnahme aus dem Jahr 1979. Seine Familie betrieb drei Generationen lang eine Wanderbühne. |Foto: Gunter Rambow
Herr L. vor seinem Wohnwagen in der Bonameser Straße, Aufnahme aus dem Jahr 1979. Seine Familie betrieb drei Generationen lang eine Wanderbühne. |Foto: Gunter Rambow

Frau Keil, Sie haben im Auftrag der Diakonie Frankfurt und Offenbach diese Ausstellung konzipiert. Was ist da zu sehen?

Die Ausstellung gibt einen Einblick in die Lebenswelt der ambulanten Gewerbetreibenden, wie beispielsweise der Schaustellerinnen und Schausteller, die in der Wohngemeinschaft Bonameser Straße leben, wo ich seit 2012 Gemeinwesenarbeit mache: Welche Entwicklungen haben nach 1945 zur Einrichtung des Platzes geführt, welche Berufe finden sich dort, was ist den Menschen, die dort leben, wichtig? Ein Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf der Verfolgung und Diskriminierung dieser Lebensform.

Seit wann gibt es solche Verfolgungen?

Nichtsesshaftigkeit ist in Europa seit der Entwicklung der Städte im 18. und 19. Jahrhundert zunehmend abgewertet und kriminalisiert worden. Dabei war es für viele Menschen, die kein eigenes Land besaßen, schlicht notwendig, mobil zu sein, um ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Aber man behauptete, es wäre ihre eigene Schuld, wenn sie sich dem neuen Ideal einer bürgerlichen, sesshaften Lebensform nicht unterwerfen. Natürlich gab es auch Interessenskonflikte, so klagten zum Beispiel niedergelassene Geschäftsleute, dass die Kunden den „bequemen Handel an der Haustür“ vorziehen würden. Gleichzeitig wurden die staatlichen Ordnungsbehörden ausgebaut, und Menschen auf der Reise hatten dann oft nicht die erforderlichen Dokumente. Es gibt hier viele Parallelen zur Situation heutiger Migrantinnen und Migranten. Der Nationalsozialismus hat schließlich rechtliche Instrumente geschaffen, mit denen Menschen allein aufgrund ihrer Lebensart und Arbeitsweise inhaftiert, zwangssterilisiert oder auch ins KZ eingewiesen werden konnten. Das geschah im Rahmen der so genannten „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ ohne richterlichen Beschluss und Verurteilung.

Wie ging es nach 1945 weiter?

Leider gab es da viele Kontinuitäten. Zum Beispiel waren teilweise Personen, die im Nationalsozialismus Zwangssterilisationen an so genannten „Asozialen“ oder „Zigeunern“ vorgenommen hatten, dann später dafür zuständig, Schadensersatzansprüche der Opfer zu begutachten. Das hat mir konkret eine Familie, die in der Gemeinschaft Bonameser Straße lebt, erzählt. Auch aufgrund fehlender Papiere hatten Menschen, die im Nationalsozialismus verfolgt und diskriminiert worden waren, auch nach 1945 noch Schwierigkeiten.

In Frankfurt lässt sich diese Kontinuität auch an konkreten Namen festmachen.

Ja, an Rudolf Prestel zum Beispiel. Er wurde nach 1945 CDU-Mitglied, 1946 hauptamtlicher Stadtrat, war bis zu seiner Pensionierung 1966 Frankfurter Sozialdezernent und leitete bis 1954 in Personalunion das örtliche Gesundheitsamt. Prestel war gut vernetzt, in vielen Vorständen und Ausschüssen und hat unter anderem das Bundesozialhilfegesetz mitentwickelt. Vor 1945 war er NSDAP-Mitglied gewesen, seit 1937 beim Frankfurter Jugend- und Fürsorgeamt tätig und unter anderem beim Betrieb des Zwangslagers in der Dieselstraße involviert. Von dort aus wurden Sinti, Roma und sogenannte „Mischlinge“ aus Frankfurt und Umgebung in Konzentrationslager deportiert. Nach dem Krieg war Prestel als Sozialdezernent dann auch für den Wohnwagenstandplatz Bonameser Straße zuständig. Er hat maßgeblich verhindert, dass dort Verbesserungen erfolgt sind, weil er wollte, dass es zur Abschreckung dient. Es gab damals nur zwei Wasserstellen mit kaltem Wasser für bis zu 1000 Personen und keinen Strom. Auch die Verhältnisse in Bezug auf Abfall waren katastrophal, der Boden war unbefestigt.

Und das hat niemand skandalisiert?

Die Bethaniengemeinde in der Nachbarschaft des Platzes hat die Not gesehen und einen Sozialdiakon eingestellt, der sich für die Belange der Menschen eingesetzt hat. Allerdings wurde dieses Engagement von vielen verhöhnt. Die Gemeinde hat dann den hessen-nassauischen Kirchenpräsidenten Martin Niemöller informiert, der sich 1958 wiederum an Oberbürgermeister Werner Bockelmann gewendet hat. Den Schriftverkehr dazu kann man im Institut für Stadtgeschichte nachlesen. Schließlich wurde Prestel darauf hingewiesen, dass diese unmöglichen Zustände behoben werden müssen, bevor die Öffentlichkeit davon erfährt.

Gab es noch mehr ehemalige Nazis im Frankfurter Gesundheitsamt?

Ja. Nach dem Krieg wurden dort der Mediziner Robert Ritter und seine Assistentin Eva Justin angestellt. Ritter hatte während des Nazi-Regimes die Rassehygienische Forschungsstelle geleitet und zusammen mit Justin bei rund 24.000 Menschen Gutachten über ihre angebliche Zugehörigkeit zu so genannten „Zigeunerrassen“ angefertigt, auf deren Grundlage dann entschieden wurde, ob diese Menschen zwangssterilisiert oder nach Auschwitz deportiert wurden. 1948 ist Ritter Obermedizinalrat in Frankfurt geworden und hat unter anderem Gutachten während der so genannten Homosexuellenprozesse angefertigt. Er starb bereits 1951, aber seine Kollegin Eva Justin war noch bis 1962 im Gesundheitsamt tätig und ausdrücklich für die Menschen im Wohnwagenlager zuständig. Sie galt schließlich als „Expertin“ für das Thema. Sie hat dort auch Feldforschungen durchgeführt.

Wie war es denn überhaupt zur Einrichtung des Wohnwagenlagers gekommen?

Reisende, wie sich ambulante Gewerbetreibende selbst nennen, gehörten seit Jahrhunderten zu unserer Gesellschaft und hatten traditionell ihre Standplätze, so auch in Frankfurt. Zum Beispiel gab es in der Nähe der Großmarkthalle einen landwirtschaftlichen Verein, wo sie sich Plätze mieten konnten. Aber auch in Griesheim, im Riederwald, am Ostbahnhof und an vielen anderen Stellen in der Stadt waren solche Plätze. Nach 1945 kamen dann auch Ausgebombte dazu, die dort einen Unterschlupf fanden, oder Menschen, die aus Konzentrationslagern zurückkamen und ihre Familien suchten. Es waren also viele. Zuerst hat man versucht, diese Menschen aus dem Stadtgebiet zu vertreiben, aber das erwies sich als unmöglich. Dann wollte man sie an einem Ort konzentrieren und hat dafür einen Standort gesucht. Doch überall haben die Anwohner und Anwohnerinnen sich dagegen gewehrt. Im Rahmen der Umsetzung erhielt Bonames eine neue Schule sowie eine neue Straßenbeleuchtung, einen Kinderspielplatz und einen Schutzmann für die Einwilligung. Viele hielten diesen Ort zwischen Bonames und Eschersheim auch deshalb für geeignet, weil es eine Kuhle war, die mit Schutt aufgefüllt wurde. Dort könne man dann ja auch „den Menschenschrott verstecken“, so ein zeitgenössischer Kommentar. Alle, die mit ihren Wohnwagen woanders standen, mussten dann dorthin umziehen, und wer das nicht freiwillig machte, wurde zwangsweise hingebracht.

Warum ist die Ablehnung dieser Lebensform kulturell so stark verankert?

Ich glaube, wir unterschätzen, wie wirkungsvoll die nationalsozialistische Propaganda in dieser Hinsicht war. Zum Beispiel hing ab 1933 in jeder Schule die so genannte „Ahnentafel des Asozialen“, sodass jedes Kind schon lernte, wer als Asozialer galt und was darunter zu verstehen ist. Darauf finden sich Berufe wie Korbflechter, Kräuter- und Wurzelhändlerin, Scherenschleifer, Bürstenbinder, Schirmflickerin, Hundehändler. Besonders suspekt waren die Schaustellerinnen und Schausteller, weil sie in der Gruppe unterwegs waren. Die waren für das Regime noch bedrohlicher als entwurzelte Einzelgänger, weil sie eine Gemeinschaft bildeten.

Liegt das auch daran, dass sie das Ideal der bürgerlichen Familie in Frage stellten und die klare Trennung zwischen Privaten und Öffentlichem?

Ja, das spielt wahrscheinlich eine Rolle. Auf dem Wohnwagenplatz in Frankfurt fanden in den fünfziger Jahren auch unverheiratete Paare Unterschlupf, die ansonsten nicht legal zusammenleben durften, oder Männer, die Frauenkleider trugen. Tatsächlich haben die Menschen, die dort leben, große Kompetenzen im Umgang mit Vielfalt entwickelt, also im Bezug auf das, was wir heute unter „Diversität“ oder „interkulturelle Kompetenz“ diskutieren. Wir müssen uns das mühsam erwerben und veranstalten Kurse dazu, aber wenn man schon seit Generationen hinweg mit ganz unterschiedlichen Menschen zusammenlebt, kann man das von selbst.

Haben Sie Hoffnung, dass sich die Einstellung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber dieser Lebensform verändert?

Ja, es gibt ja auch bereits einen Wandel. Vielleicht weil durch die Globalisierung auch die Mobilität gesellschaftlich wieder zugenommen hat. Unsere Werte haben sich seit den 1950ern sehr gewandelt. Man ist neugieriger geworden und schaut auch hinter die Kulissen. Viele sagen: So, wie die Menschen leben, das ist doch nichts Bedrohliches für unsere Gesellschaft. Jeder fährt gerne Karussell, und eine gute Zirkusvorstellung schauen wir uns auch gerne an. Insbesondere in Frankfurt freut es mich, dass wir durch die Ausstellungen, Publikationen und Gespräche erreicht haben, dass die Akzeptanz für diese Lebenswelt der Menschen, die in der Bonameser Straße leben, doch enorm gewachsen ist.

Ausstellung „...von Gauklern, Händlern und Artisten. Die Wohngemeinschaft Bonameser Straße: Geschichte der Verfolgung und Ausgrenzung“, 24. Mai bis 9. Juni in der Katharinenkirche an der Hauptwache, Öffnungszeiten Montag bis Samstag 12 bis 18 Uhr, Eintritt frei.

Eröffnung: Montag, 23. Mai, um 18 Uhr mit Sozialdezernentin Elke Voitl.

Finissage: Donnerstag, 9. Juni, um 18 Uhr mit einem Vortrag von Prof. Frank Nonnenmacher zum Thema „Die KZ-Häftlihnge, die den grünen und den schwarzen Winkel tragen mussten. Ein Fallbeispiel und die Geschichte der verspäteten Anerkennung durch den Bundestag“

Kuratiert wurde die Ausstellung von Dr. Sonja Keil, die seit Anfang 2012 für die Gemeinwesenarbeit in der Wohngemeinschaft Bonameser Straße zuständig ist. Publikationen und Vorträge zu diesem Themengebiet sowie Ausstellungen, wie beispielsweise im Dominikanerkloster Frankfurt oder an der Ev. Hochschule in Darmstadt. Lektorat: Heike Drummer und Alfons Maria Arns, Drummer und Arns Historiker GbR, Frankfurt am Main. Gestaltung: Karl-Heinz Best, mind the gap! design, Frankfurt am Main. Wissenschaftlich begleitet wurde das Projekt zur Geschichte und der besonderen Lebenswelt der Wohngemeinschaft Bonameser Straße an der Technischen Universität Darmstadt von Prof. Dr. Rudi Schmiede im Bereich der Soziologie und Prof. Dr. Dieter Schott im Bereich Neueste Geschichte und Zeitgeschichte. Dabei wurden Methoden der qualitativen Sozialforschung angewendet, die die Sinnkonstruktion von Lebenswelten im kulturellen Kontext aus der Perspektive ihrer Akteure zu erfassen sucht.


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Antje Schrupp 227 Artikel

Dr. Antje Schrupp ist Chefredakteurin des EFO-Magazins. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com Mastodon: @antjeschrupp@kirche.social

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