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Treffpunkt für Shoah-Überlebende: Miteinander reden und miteinander schweigen

In Frankfurt haben Überlebende der Shoah seit zwanzig Jahren eine Anlaufstelle. Das Projekt wurde beispielhaft für ganz Deutschland. Inzwischen ist der Treff auch für deren Kinder und Enkelkinder wichtig.

Seit zwanzig Jahren gibt es in Frankfurt den Treffpunkt für Überlebende der Shoah und ihre Familien.
Seit zwanzig Jahren gibt es in Frankfurt den Treffpunkt für Überlebende der Shoah und ihre Familien.

Gerade einmal zwölf Jahre alt war Eva Szepesi im November 1944, als sie nach Auschwitz deportiert wurde. Bei der Befreiung am 27. Januar 1945 gehörte sie zu den 400 Kindern, die gerettet werden konnten. Ihre Eltern und der kleine Bruder waren von den Nationalsozialisten ermordet worden. Wie lebt man mit so einem Trauma?

Eine große Stütze im Umgang mit dem erlittenen Grauen sind der inzwischen 90-Jährigen die regelmäßigen Besuche im „Treffpunkt für Überlebende der Shoah“. Denn wo Außenstehende nicht annähernd nachvollziehen können, was sie durchstehen musste, haben dort alle den NS-Terror am eigenen Leib erfahren. „Wir können gut miteinander reden und ebenso gut miteinander schweigen, keiner muss etwas erklären. Es ist ein völlig geschützter Raum“, beschreibt Eva Szepesi die Begegnungen und den Austausch mit Leidensgenoss:innen.

Und man kann sich jederzeit an einen der beiden Psychologen wenden, wenn die schrecklichen Erlebnisse wieder nach oben steigen. „Inzwischen muss ich jeden Tag daran denken“, sagt Szepesi. Verdrängtes Leid und damit einhergehende Traumata treten im Alter vermehrt zutage, sagt die Leiterin des Treffs, Esther Petri-Adiel. Psychosozialer Beistand nimmt deshalb im Treffpunkt großen Stellenwert ein. Nicht nur ist immer ein Psychologe vor Ort, auch das Team, das die verschiedenen Angebote wie Malkurse, Gymnastik, Yoga und Gedächtnistraining betreut, sei einfühlsam und entsprechend geschult.

Wichtig sind auch die vielen Freiwilligen, die hier helfen. Neben einem zweiköpfigen hauptamtlichen Leitungsteam engagieren sich Menschen mit Minijobs, aber auch viele Schulpraktikant:innen und Ehrenamtliche aus allen Religionen und mit unterschiedlichen Muttersprachen. Sie kümmern sich um 175 Shoah-Überlebende in Frankfurt, von denen etwa die Hälfte nicht mehr mobil ist und zuhause besucht wird.

Das Frankfurt Pilotprojekt wurde von Beni Bloch, dem langjährigen Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), vor 20 Jahren ins Leben gerufen. Es erwies sich als bundesweit wegweisend und hat inzwischen ähnliche Projekte in dreißig Städten inspiriert.

Und es gibt immer wieder neue Herausforderungen: Während der Corona-Pandemie lösten Begriffe wie „Ausgangssperre“ oder „Registrierungspflicht“ bei etlichen der alten Menschen psychische Erschütterungen aus. Während der Lockdowns habe man regelmäßig Türbesuche und Treffen in Parks organisiert. Junge Ehrenamtliche hätten zudem das Projekt „Adopt Safta“ oder „Adopt Saba“ – adoptiere eine Oma oder einen Opa – initiiert, das sie bis heute weiterführen.

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine betreut der Treff nach Auskunft von Petri-Adiel auch 20 der insgesamt über 100 ukrainischen Jüdinnen und Juden, die von der ZWST nach Deutschland in Sicherheit gebracht worden sind.

Längst ist der Treffpunkt auch für die Kinder und Enkel der Shoah-Überlebenden zu einer wichtigen Anlaufstelle geworden. „Die Shoah-Überlebenden bilden eine Welt, die es bald nicht mehr gibt. Wir sind in den letzten Minuten der Erinnerung“, sagt Petri-Adiel. Deshalb seien jetzt die Nachfolgegenerationen gefragt, die Erinnerungskultur zu pflegen und weiterzugeben.

Zumal auch manche von ihnen von den extremen Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern eingeholt würden; ein Phänomen, das in der Psychologie als „transgenerative Traumatisierung“ bezeichnet wird. Inzwischen sei sogar nachgewiesen, dass massive Stresserlebnisse auch das Erbgut verändern können. Mittlerweile kommen im Treffpunkt vier Generationen zusammenkommen, freut sich Petri-Adiel, die selbst aus einer Familie von Shoah-Lebenden kommt; ihr Großvater war Rabbiner in Köln gewesen und überlebte das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Der Kontakt mit den jüngeren Generationen gebe besonders den Hochbetagten ein Stück Leben zurück.

Der Treffpunkt Frankfurt ist eine eigenständige Einrichtung mit eigenen Räumlichkeiten, arbeitet aber eng mit der jüdischen Gemeinde zusammen. Zentrales Anliegen ist es, den Überlebenden der Shoah einen würdigen Lebensabend zu sichern und sie vor sozialer und psychischer Isolation zu bewahren. Neben Kursangeboten, dem Mittwochscafé, Konzerten und Lesungen steht die Einrichtung auch bei bürokratischen Formalitäten zur Seite. Informationen unter Telefon 069 70 76 87 40 oder E-Mail: info@treffpunkt-ffm.de


Autorin

Doris Stickler 76 Artikel

Doris Stickler ist freie Journalistin in Frankfurt.

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