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„Viele haben Gewalt erfahren“: So hilft eine Streetworkerin Obdachlosen

Bettina Bonnet vom Diakoniezentrum „Weser 5“ geht täglich durchs Bahnhofs- und Gutleutviertel und spricht Obdachlose an, um ihnen Hilfe anzubieten. Das ist oft gar nicht so einfach.

Bettina Bonnet, Streetworkerin vom Diakoniezentrum "Weser 5", unterwegs im Bahnhofsviertel. | Foto: Rolf Oeser
Bettina Bonnet, Streetworkerin vom Diakoniezentrum "Weser 5", unterwegs im Bahnhofsviertel. | Foto: Rolf Oeser

Armut ist auffällig und unauffällig. In der Eingangshalle des Frankfurter Hauptbahnhofes dienen die schwarzen Plastikstühle nicht nur Reisenden, sondern auch Menschen ohne Wohnsitz zum Ausruhen. Sie fallen erst auf den zweiten Blick auf. So wie die Frau in Winterstiefeln trotz des warmen Herbstwetters, die Kapuze ihres Wollmantels über die roten Locken gezogen. Bettina Bonnet betrachtet sie. „Sie ist hundertprozentig wohnungslos, so erschöpft wie sie ist“, sagt die Diplomsozialarbeiterin.

Täglich geht sie vom Diakoniezentrum „Weser5“ aus durch das Bahnhofs- und das Gutleutviertel sowie den Frankfurter Süden. Beobachtet, notiert, führt kurze Gespräche – wenn möglich.

Mit dem Mann, der ein paar Meter weiter im Sitzen ruht, klappt das nicht. Seine Sandalen sind vorne an den Zehen mit Frischhaltefolie umwickelt. „Er nennt sich Christian“, sagt die Streetworkerin, „wenn ich ihn frage, ob er was braucht, läuft er weg.“ Einmal konnte sie ihm einen Burger hinstellen, aber nur, weil er schlief. „Er sucht in einem Imbiss nach Essensresten, er kommt nie in unseren Tagestreff, wo wir ihm richtig helfen könnten“, sagt Bonnet. Sollte Christian das Bahnhofsviertel verlassen, würde sie bei anderen Streetworkern nach ihm fragen.

Frankfurt ist räumlich zwischen den Hilfeeinrichtungen für Wohnsitzlose aufgeteilt. In Bettina Bonnets Büro im „Weser5“-Diakoniezentrum Ecke Gutleut- und Weserstraße liegt ein Schlafsack, „die verteilen wir bei Kälte“. Bonnet spricht schnell. Seit zehn Jahren ist sie Streetworkerin, ihre Stelle wird komplett aus Spendengeldern finanziert und Jahr für Jahr verlängert.

Bonnet kennt Gärten in Oberrad und Sportstätten, wo Menschen übernachten sowie den Stadtwald, in dem ein Mann mehr als zehn Jahre unter einer Folie schlief. Je einsamer und versteckter ein Schlafplatz liegt, desto besser, sagt sie. Mit zwei Ausnahmen: Der 24 Stunden geöffnete Hauptbahnhof ist „eine gute Anlaufstelle“ und der Flughafen, der ein Dach über dem Kopf und kostenlose Toiletten bietet, ist es ebenfalls. Rund 200 Menschen ohne Obdach halten sich im Jahr immer mal wieder am Flughafen auf, 40 bis 60 von ihnen dauerhaft.

Bettina Bonnet kennt den Alltag derjenigen, die bis in die Nacht mühselig Pfandflaschen sammeln. Sie erzählt von Berufstätigen, die keine Wohnung finden und nach einem Zehn-Stunden-Arbeitstag in der Müllverbrennung oder als Küchenhilfen im Sitzen am Hauptbahnhof schlafen.

„Wie die das schaffen, dass es keiner merkt…“, sagt Bonnet. Früher habe es noch Vermieter gegeben, die Wohnungen zu niedrigen Preisen anboten, heute konkurrierten Obdachlose mit Studenten: „Der Wohnungsmangel ist schlimm für diejenigen mit wenig Geld.“

Bonnet steuert den Baseler Platz an. Ein Mann mit blonden Haaren, Käppi und Steppjacke sitzt auf einer Bank, Rucksack und Schlafsack neben sich. Bonnet beugt sich vor: „Sind Sie wohnungslos?“ Er antwortet auf Polnisch. Bonnet reicht ihm ein Faltkärtchen von „Weser5“ und zählt auf: „Mittagessen, Frühstück, Duschen“. Der Mann steckt das Kärtchen ein, vielleicht ist er ein Bauarbeiter, der keinen Lohn erhalten hat.

Warum es oft schwer ist, an Menschen ohne Obdach heranzukommen? „Ihre Erfahrungen sind in der Regel negativ“, sagt Bonnet. „Viele Heimkinder sind dabei, viele haben Gewalt erfahren. Vor uns haben sie Angst, weil sie nicht wollen, dass wir über sie bestimmen. Menschen mit glücklicher Kindheit treffen wir nicht so oft.“ Wie es ihr trotzdem gelingt, Kontakt aufzunehmen? „Auf keinen Fall jemanden in der Menge bloßstellen, sondern wir müssen sie alleine antreffen. Auch dann kann es passieren, dass sie uns anschreien.“

Es wäre ein Riesenfortschritt, wenn Obdachlose in den Tagestreff von „Weser 5“ kämen, dort könnten sie sich ausruhen, duschen, die Kleidung wechseln. So wirkten viele Obdachlose schon durch ihren Geruch abschreckend: „Denen rückt keiner auf den Pelz.“

Manchmal nimmt Bonnet auf ihre Rundgänge leere Pfandflaschen mit. Wenn sie jemanden Flaschen sammeln sieht, bietet sie eine an und findet so einen Gesprächseinstieg. Oder sie verschenkt einen Schlafsack an Bedürftige. Bettina Bonnet gibt keinen Wohnungslosen auf.

Zurück im Büro klopft Herr D. an die Tür. „Frau Bonnet“, sagt er und hält ihr einen Haftbefehl unter die Augen. „Um Gottes Willen“, sagt Bonnet. „Sie werden es nicht glauben, ich hab die letzte Nacht in der Haftzelle verbracht“, sagt Herr D., Piratenkäppi, sächsischer Akzent, leichte Fahne. Der Grund: 28,37 Euro Schaden wegen Schwarzfahren. Die Sozialarbeiterin greift zum Telefonhörer, vermittelt ein Gespräch mit der Staatsanwaltschaft. Herr D. macht dort klar, dass er inzwischen einen festen Wohnsitz hat und keine Fluchtgefahr besteht: „Ich bin doch kein Verbrecher, ich bin doch nur Schwarzgefahren.“ Bettina Bonnet weiß von „empfindlichen Freiheitsstrafen“, die Wohnsitzlosen drohen, wenn sie die Geldstrafen wegen Schwarzfahrens nicht bezahlen können.

Die Streetworkerin, die auch Bürosprechzeiten anbietet, sagt, viele ihrer Klienten seien von der Bürokratie überfordert. Und doch schaffen auch viele den Weg von der Straße weg in die Hilfesysteme: „Es ist auf einmal so als würde ein Schalter umgelegt. Die Leute haben die Schnauze voll vom Leben auf der Straße. Wenn sie sich entscheiden, etwas zu ändern, sind wir da und helfen ihnen weiter.“

Es gibt ihr Kraft zu wissen, „dass es oft gut ausgeht und wir richtig schöne Erfolgserlebnisse haben“.


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Autorin

Susanne Schmidt-Lüer ist Mitglied der Stabsstelle Kommunikation, Marketing und Fundraising des Evangelischen Regionalverbandes Frankfurt und Offenbach. Sie schreibt auch als freie Autorin, vor allem über Sozialpolitik, Kirche, Alter und wirtschaftspolitische Themen.

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