Gott & Glauben

„Unsere Vorstellung von Gemeinde muss flexibler werden“

Gemeinden versammeln sich nicht immer um einen Kirchturm, manche sind auch flüssiger, mobiler, auf Anlässe und Themen bezogen. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat zusammen mit der evangelisch-lutherischen Kirche Bayern die theologischen Lehrstühle der Universitäten Mainz, Tübingen und Erlangen beauftragt, Gemeinden auf Zeit zu erforschen.

Über die Ergebnisse befragten wir Thorsten Latzel, den Direktor der Evangelischen Akademie Frankfurt, wo sie vorgestellt wurden.

Urlaub am Meer - und vielleicht am Wochenende mal in der kleinen Dorfkirche in den Gottesdienst? Viele Menschen sind auch in religiösen Fragen mobiler geworden und orientieren sich nicht unbedingt an der Gemeinde, wo sie wohnen. | Foto: Colourbox
Urlaub am Meer - und vielleicht am Wochenende mal in der kleinen Dorfkirche in den Gottesdienst? Viele Menschen sind auch in religiösen Fragen mobiler geworden und orientieren sich nicht unbedingt an der Gemeinde, wo sie wohnen. | Foto: Colourbox

Herr Latzel, was ist eine „Gemeinde auf Zeit“?

Thorsten Latzel: Der Begriff stammt ursprünglich aus dem Bereich des Tourismus. Neben den Ortsgemeinden finden sich Menschen auf Zeit zusammen, sehr bewusst, bilden eine Gemeinschaft, feiern Gottesdienst. Sie sind also Gemeinde, aber eben nicht in der festen, kontinuierlichen Form, wie wir es kennen. Beispiele sind etwa der Kirchentag, Studierendengemeinden, aber auch Konzerte, bei vielen Ereignissen geschieht das.

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat 2012 ein Forschungsprojekt zu diesen Formen von Gemeinde beauftragt, warum ist das so interessant?

Weil wir noch viel zu wenig darüber wissen. Bei solchen Gelegenheiten ereignet sich Kirche, aber in unserer Ordnungslogik nehmen wir das oft gar nicht wahr. Im Urlaub zum Beispiel: Es gibt Menschen, die vielleicht das ganze Jahr über nicht zum Gottesdienst gehen, oder höchstens an Weihnachten, aber im Urlaub suchen sie religiöse Angebote. Diese Art Teilnahme-Logik müssen wir wahrnehmen und damit umgehen.

Die Ergebnisse sind jetzt in der Evangelischen Akademie vorgestellt worden. Was war das Wesentliche?

Es sind drei Promotionen entstanden. Eine beschäftigt sich mit der Frage, was Gottesdienst für solche Gemeinden auf Zeit bedeutet, eine untersucht die Urlauberseelsorge, und in der dritten geht es um Kirchenmusik. Ich will näher auf die Promotion zum Gottesdienst eingehen. Das Interessante daran ist, dass sie die übliche Logik umdreht. Sie geht also nicht davon aus, dass es eine Gemeinde gibt, für die dann ein Gottesdienst gemacht wird, sondern fragt andersrum: Welche Gemeindebildungskraft steckt eigentlich im Gottesdienst? Sie geht also davon aus, dass der Gottesdienst die Gemeinde konstituiert, vom Ereignis. Damit ist man gleichsam bei „flüssigeren“ Formen von Gemeindebegriffen.

Was sind das für Formen?

Etwa ein Nachtschichtgottesdienst für Menschen, die kulturell interessiert sind, spirituell suchend, in ihrer festen Gemeinde aber möglicherweise gar nicht auftauchen. Oder ein Anlassgottesdienst, wie in der Motorradszene. Da treffen sich Menschen, die sonst nichts mit Kirche am Hut haben, am Anfang und am Schluss der Saison zum Gottesdienst – nicht selten gibt es da ja leider auch Todesfälle zu betrauern. Das sind Nahtstellen zu den Leben von Menschen, die sonst so nicht auftauchen, und deshalb müssen wir als Kirche da genauer hinschauen.

Und im Urlaub?

Im Augenblick geht Kirche primär danach, wo der erste Wohnsitz einer Person ist. Zu der Gemeinde gehört sie dann. Aber im Sommer sind haufenweise Menschen an der Ostsee, in den neuen Bundesländern. Die Frage ist: Was müssen wir als Kirche wahrnehmen, damit man an diesem Ort Kommunikationsräume eröffnen kann. Dafür spielt zum Beispiel die Berechnung von Bettenzahlen eine Rolle. Die kirchlichen Entscheidungsträger müssen überlegen, wie sie ihre Ressourcen steuern.

Das klingt nach einer Chance für Kirche.

Eine große Chance. Unser Gemeindebegriff ist aber bis jetzt sehr stark an der Ortsgemeinde orientiert. Es gab lange die Diskussion, ob es mehr Ortsgemeinde- oder mehr Funktionsgemeindestellen geben soll. Aber das führt nicht weiter, es ist zu unscharf. Denn es gibt auch in den Ortsgemeinden viele Gelegenheiten, wo Kirche viel „gelegentlicher“ stattfindet, „passagerer“. Und in Funktionalgemeinden kann es auch sehr statisch zugehen. Zum Beispiel kann die Urlaubsseelsorge auf einer Insel immer wieder dieselben Leute erreichen, die dort regelmäßig Urlaub machen.

Was führt denn dann weiter?

Wir brauchen ein anderes Denken, ein Denken in Gelegenheitsstrukturen, sowohl in der Orts-, als auch in der Funktionsgemeinde. Wir müssen den Gemeindebegriff neu definieren: Was ist dafür notwendig, was nicht? Gehören Leitungsformen dazu, wenn ja, welche? Braucht es Hauptamtliche? Wie verhält sich das „Ereignis“ von Gemeinde zu der nach Kirchenordnung verfassten Gemeinde? Wir brauchen Kontinuität, aber eben auch die Wahrnehmung von flüssigeren Formen. Dafür gibt es übrigens auch viele biblische Bilder. Auf dem Weg sein, Oase sein, Herberge sein – Kirche wird in der Bibel in vielen Formen beschrieben. Unsere Vorstellungen sind oft sehr statisch, sie brechen sich aber gerade in einer flüssigen Moderne, wo die Wechsel stärker sind.

Hat die Ortsgemeinde also ausgedient?

Ortsgemeinden sind wichtig und erreichen viele Menschen, die eine hohe Ortsstabilität haben. Also zum Beispiel junge Familien, bei denen das Nahumfeld eine große Rolle spielt, oder alte Menschen, die nicht mehr so mobil sind. Das sind wichtige Gruppen. Aber was ist mit denen, die hier wohnen, dort arbeiten und ihre Freizeit wieder woanders verbringen? Was ist mit Menschen, die nicht im Wochen- oder Monatsrhythmus in den Sonntagsgottesdienst gehen, sondern vielleicht zwei intensive Wochen im Kloster verbringen? Wir müssen als Kirche anders sehen lernen.

Was heißt das konkret?

Wir machen bei der Evangelischen Kirche in Deutschland alle fünf Jahre eine Mitgliederstudie. Beim letzten Mal haben wir eine Netzwerkanalyse einer Ortsgemeinde gemacht. Da wurde gefragt: Mit wem gehen Sie eigentlich zum Gottesdienst? Mit wem reden Sie über Religion? Mit wem reden Sie über tiefe, existenzielle Themen? Wenn man die Antworten mit der Sozialstruktur einer Gemeinde abgleicht, ergeben sich gewisse Muster. Da gibt es die Eltern von Kindergartenkindern, eine Gruppe, die nur für gewisse Zeit besteht. Oder den Chor. Oder die Nachbarschaft. Und die neu Zugezogenen, die oft aus der Kirche austreten, wenn sie den Wohnort wechseln. Wir müssen die Lebensraumlogik von Menschen wahrnehmen. Was sind ihre Lebensorte? Was sind die kommunikativen Punkte, die Gelegenheiten, bei denen man sie gut adressieren kann? Und wie werten wir? Sprechen wir von „U-Boot-Christen“, die nur an Weihnachten und Ostern auftauchen, oder reden wir über eine andere Form von Kirchlichkeit, Religiosität, die sie leben? Ich gehe ja auch nicht ständig ins Theater, sondern mache es abhängig davon, ob etwas Gutes läuft. Aber trotzdem ist mir Theater wichtig.

Wie muss Kirche also umdenken?

Es gibt den Begriff des „Kairos“, das ist der „günstige Moment“: Kirche muss dringend lernen, Gelegenheitsmomente besser wahrzunehmen und beim Schopf zu packen. Überhaupt erstmal Sensibilität für Gelegenheiten entwickeln, zum Teil auch ohne sie bewusst zu schaffen. Ich denke an das Pilgern, das jetzt wieder so viele anspricht, ohne dass die Kirche viel dafür getan hätte. Aber sie hat dann Radwegekirchen gebaut, die bewusst platziert sind.

Welche Gelegenheiten sollte die Frankfurter Kirche beim Schopf packen?

Es gibt ja schon den Stadionpfarrer Eugen Eckert und die Flughafenseelsorge. Aber zum Beispiel auch auf der Messe kommen viele Menschen für kurze Zeit intensiv zusammen. Auch für Frankfurt und Offenbach gilt: Offen sein für Ereignisse.


Autorin

Stephanie von Selchow ist Redakteurin des EFO-Magazins.

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