Gott & Glauben

Warum die Kirche "Glieder" hat und keine "Mitglieder"

„Liebes Mitglied unserer Kirchengemeinde“ hieß es auf den Benachrichtigungskarten zur Kirchenvorstandswahl. Die Menschen, die zur Gemeinde gehören, als Gemeindemitglieder zu bezeichnen, hat sich eingebürgert. Von Mitgliedern spricht man heutzutage bei Vereinen, Parteien, Gruppen – warum also nicht auch bei der Kirche?

Foto: Rob z/Fotolia.com
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Früher hörte und las man eher von Gemeindegliedern – also ohne „mit“. Während der moderne Sprachgebrauch sonst zu Abkürzungen neigt, hat er bei den Gemeinde-Mitgliedern eine Silbe zugesetzt. Wahrscheinlich, weil die Bezeichnung Gemeinde-Glied einfach seltsam wirkt und antiquiert. Unter einem Mitglied dagegen kann sich jede etwas vorstellen.

In der Tat entstammt das „Gemeindeglied“ einer älteren Vorstellung. Der Apostel Paulus spricht im Ersten Korintherbrief (Kapitel 12, Verse 12-31) von der Gemeinschaft der Christen als von einem Leib mit vielen Teilen: „Ihr seid der Leib Christi, und jeder einzelne ist ein Glied an ihm“.

Will sagen: Die Leute in der christlichen Gemeinde bilden eine große Einheit, vergleichbar mit einem Leib. Dieser Leib hat erstens etwas Lebendiges und Aktives, indem er lebt und handelt. Und er hat zweitens eine gemeinsame Identität, eine Unverwechselbarkeit, denn er wird in all seinem Denken und Handeln durch Jesus Christus geprägt, in dessen Geist alles geschieht.

Drittens gehören zu einem Leib viele sehr unterschiedliche Teile, die aber zusammenwirken: Paulus nennt Augen, Hände und Füße, aber natürlich gehören auch die inneren Organe dazu. Alle Teile haben ihre jeweils unterschiedliche aktive Funktion. Einer kann ohne den anderen nicht auskommen, eine kann die andere nicht ersetzen.

So vermittelt Paulus, wie er die christliche Gemeinde sieht: Sie ist aktiv und lebendig, sie handelt im Geist Jesu Christi, und ihre „Teile“, die Glieder, bilden ein System, in dem unterschiedliche Fähigkeiten einander in idealer Weise ergänzen und füreinander da sind. Muss ein Teil leiden, dann leiden die anderen mit; freut sich eines, so freuen sich alle: Solidarität und Engagement gehört zum Wesen der Christengemeinde; Neid und Konkurrenz haben keinen Platz.

Sind also Gemeinde-Glieder angesprochen, so sind damit aktive Teile eines Ganzen gemeint, die sich zu Jesus Christus gehörig wissen und miteinander kooperieren, sodass es der Gemeinde insgesamt gut geht. Kein einziger ist verzichtbar, jede wird in Anspruch genommen.

Gemeinde-„Mitglieder“ dagegen sind nicht aktive Glieder eines Leibes, sondern Teile einer Verwaltungseinheit, zum Beispiel also Schafe einer Herde, die man zählen und deren Wolle man wiegen kann, die man auch nicht gerne verlieren möchte, deren Beziehung untereinander und deren gemeinsame Ausrichtung aber im Grunde kaum eine Rolle spielt.

Zwischen dem Gemeindemitglied und dem Gemeindeglied liegen nicht nur drei Buchstaben, sondern Welten.


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Wilfried Steller 51 Artikel

Wilfried Steller ist Theologischer Redakteur von "Evangelisches Frankfurt und Offenbach" und Pfarrer in Frankfurt-Fechenheim.