Gott & Glauben

„Ich finde es heilsam, dass wir als Kirche heute nicht mehr so breitschultrig auftreten“

Holger Kamlah hat Anfang August sein Amt als neuer Stadtdekan der Evangelischen Kirche in Frankfurt und Offenbach angetreten. Bisher war der 56 Jahre alte gebürtige Frankfurter als Prodekan für die Gemeinden im Frankfurter Nordwesten und die Klinikseelsorge zuständig. Im Gespräch mit dem EFO-Magazin gibt Kamlah Auskunft über seine Vorstellungen von Kirche in herausfordernden Zeiten.

Holger Kamlah nach seiner Wahl zum evangelischen Stadtdekan im April. | Foto: Rolf Oeser
Holger Kamlah nach seiner Wahl zum evangelischen Stadtdekan im April. | Foto: Rolf Oeser

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Herr Kamlah, Sie übernehmen eine kirchenleitende Aufgabe zu einer Zeit, wo die Kirche eher negative Schlagzeilen macht, vor allen Dingen wegen des Mitgliederrückgangs. Drei bis vier Prozent der Mitglieder verlassen die Kirche jedes Jahr: Ist es nicht ein bisschen frustrierend, in so einer Situation Stadtdekan zu werden?

Es hat definitiv zwei Seiten. Sicher ist es auch belastend, dass man in Zeiten leitende Verantwortung übernimmt, in denen die Kirche unter zunehmenden Legitimationsdruck gerät und immer mehr Menschen offensichtlich für sich nicht erkennen, warum sie Mitglied dieser Organisation sein sollten. Es ist aber gleichzeitig auch eine spannende Zeit, weil natürlich der Druck, der durch diesen Mitgliederrückgang entsteht, auch Kreativität freisetzt. Viele Verantwortliche, sowohl ehrenamtlich als auch hauptamtlich, schauen heute neu auf das, was ihr Auftrag in dieser sich verändernden Stadt ist, und dabei entsteht auch viel Energie für Neues und ganz tolle Sachen.

Spardiskussionen führen wir in der Kirche ja schon seit Jahrzehnten, aber bisher war es doch meist so, dass nur einfach immer überall etwas weniger gemacht wurde. Ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, dass sich auch wirklich konzeptionell etwas ändert?

Ja, das hat ja auch die Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau unter der Überschrift „EKHN2030“ beschlossen. Das ist schon ein sehr fundamentaler Eingriff in kirchliche Strukturen, und es fordert heraus, das kirchliche Leben neu zu organisieren.

Kurz gesagt bedeutet es, dass die Gemeinden praktisch abgeschafft werden, oder?

Also abgeschafft wäre jetzt nicht ganz richtig. Aber es ist schon ein fundamentaler Einschnitt. Die Kirchengemeinde wird als Zielgröße aller kirchlichen Zuweisungen von Personal über Geld und auch als Größe, in der kirchliches Leben gedacht und gestaltet wird, abgelöst durch den “Nachbarschaftsraum”, also durch die Region.

In Frankfurt und Offenbach soll es künftig zehn Nachbarschaftsräume geben. Aber natürlich ist das nicht einfach nur eine neue Struktur, sondern es muss tatsächlich auch gespart werden. Bei Ihrer Bewerbung für das Amt des Stadtdekans haben Sie sich dafür ausgesprochen, neue Formen kirchlichen Lebens zu entwickeln, und dabei die Maxime ausgegeben, dass nicht nur begründet werden muss, was neu eingeführt werden soll, sondern auch das, was erhalten bleiben soll. Was wären denn Dinge, die man vielleicht nicht mehr braucht, die bisher “nice to have” waren, aber jetzt, wenn das Geld knapper wird, wegfallen können?

Ich würde es nicht mit der Kategorie “nice to have” beschreiben, aber es ist offensichtlich, dass zum Beispiel der Zehn-Uhr-Sonntagsgottesdienst, der in einer bestimmten Liturgie gefeiert wird, der kirchenvertrauten Menschen bekannt ist, bei anderen aber oft Irritation auslöst, nicht jede Woche in jeder Kirche stattfinden muss.

Immer die leidige Frage für Uneingeweihte: Wann steht man auf, wann setzt man sich hin.

Genau, und warum singen die jetzt plötzlich was? Da muss man sagen, diese Form kommt in bestimmten Regionen an ihre Grenzen. Die Besucherzahlen am Sonntagmorgen können es eigentlich nicht mehr vernünftig legitimieren, und das macht auch denen dann keine Freude mehr, die kommen. Ich glaube, da werden wir über andere Formen nachdenken müssen. Es gibt ja auch schon welche.

Zum Beispiel Gottesdienste am Abend oder mit mehr Musik oder mit Kindern?

Ja, oder vielleicht manchmal auch mit weniger Text, mit mehr meditativen Elementen, vielleicht aber auch mit Theaterstücken. Es gibt da eine große Bandbreite von Formaten, die auch schon lange gelebt werden, aber in aller Regel bisher immer additiv. Also es gab den Sonntagsgottesdienst morgens um zehn Uhr, der klassisch war, und wenn etwas anderes stattfinden sollte, musste das zusätzlich sein. Das wird aus vielen Gründen in Zukunft nicht mehr möglich sein, und es wird auch nicht mehr sinnvoll sein. Wir werden das gottesdienstliche Leben verändern müssen, und ich glaube auch, dass sich die Zahl der Gottesdienste insgesamt verringern wird.

Verlieren die Gottesdienste dadurch ihre zentrale Rolle im kirchlichen Leben?

Das würde ich nicht sagen. Ich halte die gottesdienstliche Lebensäußerung in der ganzen Fülle, die es gibt, für die Kirche für zentral. Aber ich glaube, wir tun gut daran, wenn wir uns ein bisschen an der Maßgabe „Weniger ist mehr“ orientieren. Gottesdienste lösen oft mehr Resonanz aus, wenn es viele Beteiligte gibt, die an der Gestaltung mitgewirkt haben. Wer das aber schon mal vorbereitet hat, weiß, wie viel Arbeit das macht. Es ist was Tolles, aber man kann es nicht im Wochenrhythmus realisieren. Sowieso ist es schwierig, dass Menschen mittleren Alters einen festen Termin in der Woche am Sonntagvormittag wahrnehmen.

Regelmäßige wöchentliche Termine funktionieren heute ja nicht mal mehr bei Doppelkopfrunden, das Leben vieler Menschen ist viel zu flexibel geworden. Letzten Endes muss man sich von Mal zu Mal neu verabreden. Aber natürlich ändert sich dadurch auch der Charakter von Gemeinde. Die Kirchenzugehörigkeit ist dann auch nicht mehr so auf den Wohnort bezogen, oder? In einer Stadt wie Frankfurt oder auch in Offenbach wird man sicher noch jeden Sonntagmorgen einen traditionellen Gottesdienst finden, aber eben vielleicht nicht mehr in der Straße, wo man wohnt.

Genau.

Werden sich diese Veränderungen auch auf andere Bereiche der Kirche auswirken? Zum Beispiel auf die Diakonie? Die diakonischen Einrichtungen haben ja diese Finanzprobleme nicht, weil sie überwiegend durch andere Finanzquellen finanziert werden und nicht aus Kirchensteuern.

Naja, die Diakonie hat manchmal auch Finanzprobleme. Aber es stimmt: Die sind nicht unbedingt durch die Kirchenaustritte verursacht. Die Diakonie wird sich nicht strukturell rückbauen müssen, wie das die verfasste Kirche tut. Wir haben vor, das in Zukunft besser zu verzahnen: das normale kirchengemeindliche Leben und das, was in den diakonischen Einrichtungen hoch professionell durchgeführt wird. Nächstenliebe, wie sie sich auch in der Diakonie manifestiert, ist eine zentrale Lebensäußerung des christlichen Glaubens. Und dafür braucht sie die Verbindung zu den Kirchengemeinden, die ist in der Vergangenheit ein bisschen verlorengegangen. Als 2015 viele Geflüchtete nach Frankfurt gekommen sind, haben sich extrem viele Ehrenamtliche intensiv eingesetzt. Da hat man noch mal gemerkt, wie wichtig für Kirchengemeinden dieses „Kirche-für-andere-sein“ ist, wie Bonhoeffer es genannt hat.

Womöglich würde sonst ja die Gefahr bestehen, dass die Diakonie sich verselbstständigt und man irgendwann fragen müsste, was denn eigentlich noch evangelisch daran ist, wenn die Kirche ein Krankenhaus betreibt. Was macht denn ein evangelisches Krankenhaus evangelisch?

Krankenhäuser sind da ein schwieriges Beispiel, weil das Gesundheitswesen so unglaublich reglementiert ist, dass die Spielräume einfach sehr eng werden für Krankenhausträger. Es ist da schwierig, sozusagen on top eine bestimmte Identität zu vermitteln, zum Beispiel mit mehr Personal und einer noch mal besseren Versorgung. Um das zu finanzieren, bräuchte es Kirchensteuermittel, die nicht zur Verfügung stehen. Letztlich läuft es darauf hinaus, dass eine bestimmte Haltung dahinter stehen muss.

Was für eine Haltung? Menschlich, humanistisch, zugewandt und so weiter zu sein, reklamieren andere Träger genauso für sich.

Ja, es ist aber in unserem Zusammenhang anders begründet. Wir begegnen Menschen so, dass wir ihre Würde als in keinster Weise zu reduzieren ansehen, wir sehen sie so, dass sie so, wie sie sind, wertgeschätzt und wichtig sind. Das leitet sich im christlichen Glauben aus dem Gedanken ab, dass wir als Menschen Gottes Geschöpfe sind und dadurch sozusagen von Gott unseren Wert zugesprochen bekommen haben. Das müssen wir als Christen in jedem Menschen achten, weil wir es in jedem Menschen erkennen.

In Frankfurt ist der Anteil der Christ:innen schon lange unter 50 Prozent gesunken. Das ist ja nicht nur eine Frage des Geldes, das weniger wird, sondern die Kirche ist nun auch weltanschaulich in einer Minderheitenposition. Das macht sich gerade bei Themen wie Abtreibung oder Sterbehilfe auch bemerkbar, denn die traditionellen christlichen Positionen, die Sie jetzt ja gerade angedeutet haben, sind zunehmend umstritten.

Die Frage des assistierten Suizides ist im theologischen Diskurs bereits hochkontrovers angekommen. Das finde ich persönlich auch tatsächlich eine schwierige Fragestellung. Ich kann die Gründe für assistierten Suizid gut nachvollziehen, sehe aber auch die große Gefahr, was das für eine Gesellschaft bedeuten kann, wenn der Eindruck entsteht, ein Leben lohnt sich nicht mehr, weil jemand nicht mehr leistungsfähig ist, weil jemand irgendwas nicht mehr kann. Das ist ein großes Risiko. Wenn überhaupt, kann ich mir das deshalb nur unter einem sehr engen Konstrukt vorstellen, in großer Not. So, wie das Verfassungsgericht das ausgedrückt hat, nämlich dass jeder Mensch quasi ein Recht auf Suizid hat, das teile ich aus christlicher Perspektive nicht.

Ja, an diesen Punkten wird es interessant. Denn die Mehrzahl der Menschen in Deutschland sieht das laut Umfragen anders als Sie und stimmt eher dem Verfassungsgericht zu. In Bezug auf Abtreibung fordern immer mehr Menschen die Streichung des Paragrafen 218, also die Herausnahme des Themas aus dem Strafrecht. Die Position, von der aus die Kirche bei solchen Fragen mitredet, hat sich verändert. Früher war es doch so: Wenn die Kirche etwas gesagt hat, betraf das 80, 90 Prozent der Bevölkerung und hatte ein sehr großes Gewicht. Man hat gesagt: Ah, die Kirche sieht es so, da müssen wir jetzt alle noch mal drüber nachdenken. Heute heißt es eher: Na ja, die Kirche sieht es so, aber wir sehen es halt anders.

Ja, selbstverständlich. Ich finde es aber eher heilsam, dass wir heute nicht mehr mit dem breitschultrigen Habitus derjenigen auftreten, die die Deutungshoheit haben. Das ist auch dem Glauben, den wir vertreten, die angemessenere Form. Wir sind ein Akteur in dieser immer bunter werdenden Gesellschaft. Wir vertreten eine Position, die es lohnt, gehört zu werden, und die meines Erachtens auch in dieser Gesellschaft gebraucht wird. Klammer auf: Manchmal frage ich mich, ob die Resonanz, die die Kirche seit anderthalb, zwei Jahren in den Medien findet, nicht auch ein versteckter Ausdruck der Sorge ist, Kirche könnte irgendwann nicht mehr da sein. Und plötzlich fehlt irgendwas, von dem man merkt, man hätte es gebraucht. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber es ist so ein Gefühl, das mich umtreibt.

Ja, man hat tatsächlich den Eindruck, es machen sich mehr Leute Sorgen als eigentlich davon betroffen sind.

Ja, genau. Auch Leute, die selber sagen, sie gehören dieser Organisation nicht an und teilen diesen Glauben nicht, formulieren gleichzeitig, dass es aber unglaublich wichtig ist, dass es uns gibt.

Nun ja, unsere ganze Gesellschaft baut ja auf ehrenamtlichem Engagement auf. Das fängt bei der Hausarbeit an, und natürlich ist die Kirche auch eine Akteurin, die ganz viel freiwilliges, unbezahltes Engagement für die Gemeinschaft einbringt, auf das man insgeheim baut, aber das nirgendwo einkalkuliert ist. Und es würde eben viel wegfallen, wenn dieses Engagement wegfallen würde.

Ja, es würde unglaublich viel wegfallen. Und der Leiter unserer Diakonie, Markus Eisele, wird nicht müde zu betonen, dass auch das, was jetzt noch professionell versorgt wird, in zehn, zwanzig, dreißig Jahren vielleicht gar nicht mehr professionell versorgt werden kann, weil die Personen gar nicht da sind, die es tun könnten.

Vielleicht landen wir dann wieder dort, wo Gemeinden diakonisches Engagement aufbauen müssen, so wie die Kirche im 19. Jahrhundert ja die Diakonie erfunden hat, Kindertagesstätten, Sozialberatung und so weiter.

In anderen Ländern ist das schon so. 2019, kurz vor Corona, waren wir mit Pfarrerinnen und Pfarrern in Birmingham und haben ein kirchliches Projekt besucht. Birmingham ist eine Stadt, in der ich das Gefühl hatte, dass sich die Pluralisierungsschraube noch mal drei Umdrehungen weitergedreht hat. Wir waren in einem Stadtteil, der ähnlich wie Frankfurt-Höchst, wo ich lebe, sehr multikulturell war, aber von der Kaufkraft her niedrig, also eher prekäre Lebensverhältnisse, hoher Arbeitslosenstand, viele Probleme. Dort hatte sich eine Art christliche Keimzelle gebildet, die wieder alte Formen reaktivierte. Das Projekt hatte etwas Kommunitäres, auch Egalitäres, jeder, der dort mitgewirkt hat, hat das gleiche Gehalt bekommen, unabhängig davon, was für eine Geschichte er hatte. Diese Leute haben sich in dem Quartier den Auftrag gegeben, zu schauen, was die Menschen dort brauchen. Sie haben angefangen, die Leute zu befragen: Was fehlt euch hier? Was würdet ihr euch wünschen für diese Ecke? Tatsächlich war das nicht mal ein Stadtteil, sondern noch kleiner, zwei, drei, vier Straßenzüge. Sie haben angefangen, die Leute miteinander zu vernetzen, und gezielt versucht, die Lebensverhältnisse dieser Menschen zu verbessern. Das waren zum Beispiel ganz oft migrantische Frauen, die die Sprache nicht konnten und deswegen abgehängt und isoliert waren. Und obwohl das Projekt von einem Missionarsehepaar initiiert worden war, haben sie gesagt: Es geht uns nicht darum, hier die Leute zu bekehren, sondern darum, das Leben dieser Menschen zu verbessern. Und wenn irgendwann der Zeitpunkt kommt, wo diese Menschen den Glauben kennenlernen wollen, dann wird das so sein, wenn sie das selber wollen.

Vielleicht ist ja diese Initiation von Gemeinschaftsgefühl schon selbst der christliche Inhalt von Nächstenliebe und Gemeinschaft? Wie im Gleichnis von der Speisung der 5000, also die Erfahrung: Wenn wir zusammenarbeiten, reicht es für alle.

Ganz darauf würde ich es nicht reduzieren wollen. Es gibt schon noch ein paar mehr Inhalte, und auch welche, die schwerlich ganz ohne Verbalisierung auskommen. So viel Wertschätzung ich für diese Vergemeinschaftung auch habe und so viel Eigenwert ich darin erkennen kann, würde ich schon sagen, dass christlicher Glaube auch noch ein bestimmtes Weltbild mit integriert, das mir auch wichtig ist.

Sie haben in Ihrer Bewerbungsrede vor der Wahl einen Satz gesagt, den ich sehr interessant fand, nämlich dass Gottes Wirken auch jenseits der großen Kirchen zu entdecken und zu feiern ist. Können Sie das noch ein bisschen näher erklären?

Das bezog sich zum einen darauf, dass es ja nun eine wachsende Anzahl an christlichen Gemeinden in Frankfurt gibt, auch evangelischen christlichen Gemeinden, die nicht zu unserer Landeskirche gehören. Nicht wenige feiern in unseren Kirchen ihre Gottesdienste, aber es gibt trotzdem wenig Kontakt miteinander. Wir leben christlichen Glauben nicht gemeinsam. Natürlich sind die kulturellen Gaps groß, da darf man sich keinen Illusionen hingeben. Aber für die Zukunft ist es auch eine Aufgabe, dass wir erkennen, wie Gottes Geist in diesen Gemeinschaften wirkt. Ich beziehe das aber auch auf den interreligiösen Dialog und auf die Auseinandersetzung mit der säkularen oder säkularisierenden Gesellschaft, in der wir uns befinden. Ich würde es als eine Häresie betrachten, zu behaupten, dass wir eine Monopolfunktion in Bezug auf Gottes Wirken hätten.

Manche sagen, dass es erst mit den monotheistischen Religionen angefangen hat, dieses Bestehen darauf, dass der eigene Zugang zu Gott der einzig wahre ist. Das ist ja auch deshalb so problematisch, weil die Verbindung von Staat und Kirche tatsächlich eine Machtposition für die Kirche war, in dem Sinne, dass man Leute ins Gefängnis sperren oder gar auf dem Scheiterhaufen verbrennen konnte, wenn sie etwas vermeintlich Falsches glaubten. Womöglich ist das heutige Schrumpfen der Kirche auch eine Möglichkeit, inhaltlich wieder klarer zu werden oder auch mehr in die Debatte zu gehen, wenn es nicht mehr mit dieser kirchlichen Machtfülle verbunden ist?

Ja, Gott sei Dank, liegen diese Zeiten hinter uns. Aber es ist tatsächlich noch nicht so lange her, dass wir als Kirche eine Deutungshoheit für uns in Anspruch genommen hatten und in dieser Gesellschaft irgendwie auch hatten. Das hat weder dieser Gesellschaft wirklich gut getan, noch hat es uns gut getan. Jetzt ist es so, dass wir durchaus vertreten, was wir denken, aber eben im Bewusstsein dessen, dass wir in der Frankfurter Stadtgesellschaft vielleicht 13 bis 14 Prozent ausmachen und in Offenbach sogar noch weniger. Ich würde auch noch nicht mal für mich in Anspruch nehmen, dass ich stellvertretend für diese 13 oder 14 Prozent sprechen könnte, weil ich natürlich weiß, dass die auch wieder in sich sehr heterogen sind, das ist ja auch etwas typisch Evangelisches.

Letzte Frage: Wenn Sie jetzt als Stadtdekan durchstarten, auf welches Projekt freuen Sie sich ganz besonders?

Was mich am meisten freut und wo am meisten Herzblut drinsteckt, auch wenn das Projekt gar nicht von mir initiiert worden ist, sondern von Pfarrerinnen und Pfarrern aus meinem Zuständigkeitsbereich, das ist die Kasualagentur, die wir aufbauen wollen. Dabei geht es vor allen Dingen um Taufe, Trauung und Beerdigung. Denn wir merken, dass Menschen nicht mehr von sich aus auf die Idee kommen, das mit uns zu feiern. Wir müssen hier Barrieren abbauen, die wir aufgebaut haben, und da ist jetzt wirklich eine große Energie bei Pfarrerinnen und Pfarrern, die diese wunderbaren Angebote, die wir haben, sehr offensiv Menschen nahebringen wollen.

Also zum Beispiel Taufen im Main oder in der Nidda?

Genau, oder auch bei Menschen zu Hause oder Trauungen. Lange Zeit haben wir Paare, die in der freien Natur getraut werden wollten, auf die kirchliche Lebensordnung verwiesen und gesagt: Das geht nicht, das müssen wir in einer Kirche machen. Es hat uns nicht gutgetan, dass wir uns da ein Regelwerk gegeben haben, das von den Inhalten her gar nicht zwingend gewesen wäre. Die Idee ist jetzt, stärker bei dem anzusetzen, was die Menschen brauchen, und dann mit ihnen zusammen so etwas zu gestalten. Wo immer das in der Vergangenheit geschehen ist, sind sehr, sehr schöne Projekte entstanden. Und es hat sich gezeigt, dass wir tatsächlich etwas zu geben haben. Das bereichert das Leben von Menschen, und das sagen sie auch selber.

Die Leute wollen also nicht nur die schöne Location für ihr Familienfest und die Fotos, sondern sie suchen auch Inhalte?

Genau. Und an der Stelle würde ich tatsächlich selbstbewusst sagen, die können wir besser liefern als freischaffende Unternehmerinnen und Unternehmer, die dabei eine reine Dienstleistungsfunktion haben.


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Antje Schrupp 227 Artikel

Dr. Antje Schrupp ist Chefredakteurin des EFO-Magazins. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com Mastodon: @antjeschrupp@kirche.social

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