Gott & Glauben

Charlotte Eisenberg: This is my Utopia

Pfarrerin Charlotte Eisenberg aus der Regenbogengemeinde in Frankfurt-Sossenheim hat in ihrem Beitrag zu dem Sammelband „Kirche der Zukunft – Zukunft der Kirche“ eine Utopie entworfen. Wir dokumentieren diese hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlags.

Screenshot: Pfarrerin Charlotte Eisenberg in ihrem Pfarrgarten in Sossenheim, wo sie ihren Beitrag "This is my Utopia" auch auf Video aufgenommen hat.
Screenshot: Pfarrerin Charlotte Eisenberg in ihrem Pfarrgarten in Sossenheim, wo sie ihren Beitrag "This is my Utopia" auch auf Video aufgenommen hat.

Aus: Ferenc Herzig, Konstantin Sacher, Christoph Wiesinger (Hg): Kirche der Zukunft – Zukunft der Kirche. 23 junge Pfarrerinnen und Pfarrer erzählen. Gütersloher Verlagshaus 2021, 223 Seiten, 22 Euro.

Hier können Sie den Beitrag auf Youtube anschauen.
Hier eine Rezension zum Buch


Die deutsche weiße Mittelschichtskirche, diese Stammeskirche, gibt es nicht mehr.

In meiner Utopie ist Kirche ein Treffpunkt für Menschen, die Gott suchen und ihn feiern wollen. Natürlich ist sie das, das soll sie sein, zu allen Zeiten und an allen Orten. Nicht soll sie jedoch ein Ort sein, wo nur die Wohlhabenden, die Gesetzten und nur die über 60 zu Hause sind. Wo die Fähigkeit hochgeschätzt wird, Stücke von Bach und Mozart – natürlich auf der Orgel gespielt – auseinander halten zu können. Sondern wo diejenigen sich treffen, die sich nach Gottes Gegenwart sehnen, aus allen Schichten, allen Alters, jeglicher Hautfarbe, jedes Geschlechtes. Egal, welchen Namen sie Gott geben: das Transzendente, der Schöpfer, die Dreieine oder einfach „Mehr“.

In meiner Utopie ist Kirche Musik. Hier kommen alle Instrumente zum Klingen und jegliche Melodie ist willkommen. Von Orgel bis Schlagzeug, von Paul Gerhard bis Beyoncé. Hier werden nicht Millionen für den Erhalt des Vergangen ausgegeben und das Alte mit Macht am Leben erhalten. In meiner Utopie ist Kirche ein Ort der Vielfalt und des Experimentes. Denn hier geht es darum, Gott zu erfahren. Doch Gott ist nicht im Alten. Er ist auch nicht im Neuen. Er ist in den Menschen – in ihrer Vielfalt und Buntheit. Denn Kirche bleibt nur lebendig, wenn die Herren und Damen in ihrer Mitte Platz machen für die, die sonst am Rande stehen. Die Kinder, die Fremden, die Freaks. Diejenigen, mit denen Jesus nach Hause gegangen wäre, um mit ihnen das Brot zu teilen und über Gottes Liebe und Gerechtigkeit zu reden. Und nicht über Bachs kleine Fuge in g-Moll.

In meiner Utopie ist Kirche ein Gegenüber und keine Partnerin des Staates. Kirchensteuer kennt man hier nicht. Stattdessen gibt jede und jeder das, was möglich ist. Hier ist wenig Geld zu finden, denn Staatskirchenverträge und Beamtenrecht sind abgeschafft. Auch Staatsleistungen sucht man vergebens, denn die jahrhundertealten Vereinbarungen wurden aufgekündigt. In meiner Utopie ist Kirche kein Ort der Privilegien und der Privilegierten. Sondern ein Ort, wo die Prophetin zu Hause ist, die von der Welt geächtet wird. Und die nicht mit der Ministerin spricht, um einen Kompromiss zu finden, sondern um ihr von Gottes Gerechtigkeit und Frieden zu erzählen. Von der radikalen Botschaft des Reiches Gottes, für die es keine politischen Hände zu schütteln gilt, sondern Tische umzuwerfen. Und wenn nötig, auch in den Tod zu gehen, wie es einer schon vor 2000 Jahren tat. In dieser Kirche ist die Armut zu Hause. Denn sie steht in der Nachfolge eines Wanderpredigers, der keine andere Heimat hatte als Gott.

In meiner Utopie ist Kirche ein Kind des Geistes. Und nicht des Papiers und der Bürokratie. Nicht das Mitgliedschaftsverzeichnis und auch nicht das Taufregister zeigen an, wer dazu gehört und wer nicht. Denn die Taufe ist Geschenk und Gabe Gottes an uns. Wie könnte sie dann Bedingung sein? Nein, keine Bedingung ist sie, sondern Ausdruck unserer Sehnsucht. So ist es auch nicht wichtig, wann und wie oft jemand kommt. Erst recht sind es nicht zwei Buchstaben auf dem Lohnsteuerzettel, die entscheiden, wer dazu gehört. In meiner Utopie geht es um ein Suchen, ein Streben nach dem, was uns Heil und Ganz macht. Und dies ist durch kein Formular, kein Gesetz, keine Besuchsfrequenz abzubilden. Deswegen wird hier auch nicht diejenige Pfarrerin, deren Partner*in das richtige Geschlecht und die rechte Religion hat. Sondern diejenige, die die Menschen mitnehmen kann auf ihrer Reise zum Heiligen.

In dieser Utopie ist Kirche eine Hütte und kein Palast. Hier verkünden nicht Gold und Marmor Gott. Hier maßt sich nicht menschlicher Größenwahn an, Gottes Wunder nachzuahmen. Wer sind wir, dass wir meinen, Gott in Stein abbilden zu können? In meiner Utopie wird das Heilige nicht durch Denkmalschutz und Tradition zugemauert. Hier wird Kirche heilig durch das, was in ihr geschieht: Das mutige Offenlegen von Wunden, das schützende Umarmen der Schwachen, das leise Weinen, das laute Lachen, das wilde Tanzen und das wütende Brüllen. In meiner Utopie gibt es die Stille der Wüste. Es gibt den Lärm des Marktplatzes und die Ekstase des Festes. Was es nicht gibt, ist eine sonntägliche Pflicht zum Gottesdienst. Weder für die eine noch für alle. Der Dienst an Gott, Gottes Dienst an uns, findet statt, wo, wann und wie er gebraucht wird. Er lässt sich nicht einhegen und verordnen. Und er zeigt sich nicht in Form eines Geheimbundes, wo nur die Eingeweihten die rechten Worte und die erwünschten Gesten kennen. Jeder und jede wird willkommen geheißen und mitgenommen. Nicht die agendarischen Formen I und II sind hier vorgeschrieben, sondern das Ermöglichen von göttlicher Erfahrung. In Herz und Verstand, in Leib und Seele.

In meiner Utopie ist Kirche ein schöner Ort. Wo wir nebeneinander und miteinander sitzen, auf bequemen – vielleicht etwas schäbigen – Stühlen, die leise flüstern: „Es ist gut, dass du hier bist. Bleib doch noch etwas länger. Sieh dich um, fühl dich zu Hause, denn Gott will dich bergen, dich ermutigen, dich stärken.“ Hier kennt man keine harten, unbequeme Bänke, keine düsteren Ecken und furchteinflößenden Bilder, die einem schon beim Hineingehen zurufen: „Hier ist es nicht schön. Geh lieber wieder nach Hause, denn eigentlich wollen wir dich hier nicht.“ Diese Kirche ist zwar keine Wellness-Oase, denn Gottes Wort ist nicht nur leise und sanft, sondern manchmal auch laut, wütend und unbequem. Aber hier werden wir wahrgenommen mit unserem Körper und unseren Sinnen. Hier werden wir Sünderinnen befreit, beflügelt, ermächtigt. Hin zu Gott, hin zueinander. Hier wird Gottes radikale Gerechtigkeit und Vergebung mit Händen greifbar, mit Ohren hörbar, mit Augen sehbar.

In meiner Utopie ist Kirche eine Heimat für Kinder und Jugendliche. Zeit in und mit der Kirche zu verbringen ist für sie schön, spannend, wertvoll. Hier geben nicht die Alten vor, wer etwas wie und wo darf. Stattdessen gibt es hier ganz viel Raum Kirche zu erkunden, den eigenen Glauben zu stärken und Spiritualität zu erproben. Kirche ist für junge Menschen ein Ort, wo sie bedingungslose Liebe und erlösende Freiheit erfahren. Wo sie lernen, dass ihr Wert von nichts und niemandem auf der Welt abhängt, denn ihre Namen sind in Gottes Hand gezeichnet. Die alten vergilbten Unterschriftenkarten der Konfis verstauben auf dem Dachboden: Gottesdienst als Zwang – eine Idee in Schwarzweiß. Kaum zu glauben, dass es das mal gab! Gottesdienste, Freizeiten und Konfistunden verpassen will hier niemand, denn es geht ja um sie: um ihre Fragen, ihren Glauben, ihre Kirche. Und um den, der einmal sagte: Lasst die Kinder zu mir kommen, denn ihnen gehört das Reiche Gottes.

In meiner Utopie ist Kirche keine Landeskirche. Die alten Fürstentümer sind abgeschafft, genauso wie die Grenzen entlang kryptischer Linien, die sich in Begriffen wie Presbyterium und Propstei, in Beffchen und Halskrause ausdrücken. An der Nordsee und in den Alpen findet man sie, die Gemeinden, die sich als Glieder der einen Gemeinschaft verstehen, die sich nicht durch Gesetze und Verwaltungen und schon gar nicht durch längst untergegangene Ländergrenzen teilen lässt. Verschiedene Eigenheiten und Perspektiven bestehen, doch sind diese keine Trennungsgründe. Sie sind Ausdruck von Gottes bunter Schöpfung in der einen Kirche. Theologische Bekenntnisse und Erkenntnisse können hier nebeneinanderstehen, denn in ihrer Gesamtheit erlauben sie uns, Gottes unbegreiflicher Wahrheit etwas näher zu kommen. Deswegen gibt es keine Mauern mehr, sondern nur noch durchlässige Membranen miteinander verbundener Zellen, durch die steter Austausch die Grundbedingung für ein gesundes Wachsen ist. Nur so bleibt Raum für Gottes überraschendes Handeln, denn der Geist der Ordnungen und Ordner wurde verbannt.

In meiner Utopie ist Kirche gegenwärtig. Sie hat keine Angst vor den Medien der Zeit, verharrt nicht auf alten Wegen aus Angst vor dem Neuen, aus Bequemlichkeit, aus Arroganz. Sie orientiert sich in ihrer Verkündigung an der Art, wie die Menschen um sie herum kommunizieren. Sie verkauft sich aber auch nicht, versteht sich nicht als Marke und orientiert sich nicht an Leistung, wie sie der Markt kennt. Denn hier geht es nicht um ein Produkt, sondern um Gottes Wort vom Reich Gottes. Aber sie kommuniziert so, dass Menschen sie wahrnehmen. Sie hören und sehen. Sie spricht in einer Sprache und an Orten, dass Menschen sie verstehen können. Sie verwendet keine Phrasen, kein „wir dürfen“ und kein „lasst uns“. Sie spricht auch nicht in hoher Sprache, die keiner versteht. Und sie biedert sich nicht an. Denn sie ist schon da, wo die Menschen sind. Was anderes ist Kirche als die Menschen, die darin sind? Deswegen kommen hier auch genau diese Menschen zu Wort. In meiner Utopie spricht nicht die Kirche zu den Menschen, sondern die Menschen der Kirche sprechen miteinander. Sie tauschen sich aus, sie hören einander zu, sie essen und tanzen miteinander und sie schweigen gemeinsam. So dass Gottes Wort sich Bahn bricht.

In meiner Utopie ist Kirche der Leib Christi. Hier hat keiner Macht über den anderen. Pfarrerin und Gemeindeglied, Alt und Jung, Verwalterin und Arbeiter im Weinberg, Weiße und Schwarze, Bischöfin und Pfarrer, Hetero und Queer, Mann und Frau – sie alle wissen: wenn einer leidet, leidet der ganze Körper. „Einer trage des anderen Last“: eine solche Gemeinschaft kennt keine Machtpose und Schwäche zeigen zu können gilt allen als die wahre Stärke. Die alten Machtspiele und Hierarchien wurden längst durchschaut, egal wie informell und subtil sie waren. Gerechtigkeit und Frieden feiern hier täglich den Christopher Street Day, denn nie wieder lassen sie sich das küssen verbieten. Die Rudel der alten weißen Männer, die vormals hinter Bürotischen regierten, sind nun besonders bemüht, den bisher Übertönten Gehör zu verschaffen. Für sie ist das der wahre Dienst an Christus. Denn wie die Kirche sich Christus unterordnet, so ordnen sich nun die Mächtigen den Schwachen unter. Und geben damit Gott einen guten Grund, vor Freude laut zu lachen.

Dies ist meine Utopie. Meine Utopie von Gottes Kirche auf Erden. Hier und heute.


Autorin

Gastautor:in 37 Artikel

Regelmäßig veröffentlichen wir im EFO-Magazin Gastbeiträge von Frankfurter und Offenbacher Pfarrerinnen und Pfarrern oder anderen interessanten Persönlichkeiten.

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