Was kommt nach dem Ende der Volkskirche?
Als 2019 die so genannte „Freiburger Studie“ herauskam, war das für viele ein Schock: Bis zum Jahr 2060, prognostizierten die Wissenschaftler:innen von der Uni Freiburg, würde die evangelische Kirche in Deutschland die Hälfte ihrer Mitglieder verlieren und von gut 20 Millionen auf nur noch gut 10 Millionen schrumpfen. Damals schimpften viele über den Pessimismus dieser Vorhersage. Inzwischen glauben einige Fachleute, die Schätzungen waren noch zu optimistisch. Denn in den vier seither vergangenen Jahren sind die Austrittszahlen weiter stark gestiegen. Auch wegen der Corona-Pandemie, die hier noch einmal wie ein Katalysator wirkte.
Der Religionssoziologe Detlef Pollack sieht einen Kipppunkt erreicht, seit der Anteil katholischer und evangelischer Christ:innen an der Bevölkerung auf unter 50 Prozent gesunken ist. Denn Mehrheitsverhältnisse hätten die Tendenz, sich zu verstärken: Begründen muss man heute nicht mehr, warum man aus der Kirche austreten will, sondern warum man noch drinbleibt. Dass die Kirchen sparen und Infrastruktur zurückbauen müssen, und zwar in ganz erheblichen Umfang, ist eine logische Konsequenz.
In Frankfurt gibt es schon seit den 1990er Jahren kontinuierlich Programme zum Abbau des Gebäudebestandes und zur Zusammenlegung von Gemeinden. Die jetzige Bildung von „Nachbarschaftsräumen“ ist so gesehen nur ein weiterer Schritt.
Der Wandel ist aber viel mehr als nur ein Sparprogramm. „Selbst wenn wir als Kirche alles Geld, alles Personal, alle Gebäude behalten könnten – wir müssten uns dennoch tiefgreifend verändern, weil sich unsere Gesellschaft so sehr verändert“, sagt Steffen Bauer, Organisationsberater bei der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). Äußere Zwänge können dabei sogar hilfreich sein, weil sie Veränderungen in Gang bringen, für die man sonst vielleicht zu träge wäre.
Nötig ist vor allem der Blick über den eigenen Kirchturm hinaus. So ist es zum Beispiel falsch, die Zahl der Christ:innen nur aus der Addition evangelischer und katholischer Kirchenmitglieder zu errechnen. In Großstädten wie Frankfurt und Offenbach gibt es längst eine erhebliche Anzahl anderer christlicher Gemeinden, zum Beispiel orthodoxe Kirchen unterschiedlicher Nationalitäten, aber auch Freikirchen, pfingstlerische Kirchen, selbst lutherische oder reformierte Kirchen anderer Muttersprachen. Wie viele es sind, weiß niemand. Denn noch immer weist die Statistik lediglich „evangelisch, römisch-katholisch, sonstiges“ aus. Bloß dass die „Sonstigen“ laut statistischem Jahrbuch der Stadt Frankfurt von 2021 inzwischen zwei Drittel stellen. Es sind Konfessionslose, Muslim:innen, Angehörige anderer Religionen – und eben Christ:innen, die nicht „auf deutsche Art“ christlich sind.
Doch auch jenseits von religiösen Organisationen ist „Christliches“ viel weiter verbreitet, als sich aus Kirchenmitgliederzahlen ableiten lässt. Umfragen über Ansichten und Werte zeigen regelmäßig, dass es keine nennenswerten Unterschiede zwischen religiösen Menschen und nicht religiösen Menschen gibt. Offenbar „glauben“ wir alle im Wesentlichen dasselbe. Detlef Pollack erklärte das in der FAZ damit, dass Europa viel stärker von christlichen Traditionen beeinflusst sei, als die Leute sich klarmachen: „Werte wie Gerechtigkeit, Mitleid, Demut – oder wie wir heute sagen: Fairness, Empathie, Bescheidenheit – haben eine große Bedeutung. Menschen, die von außen nach Europa kommen, bemerken diese Spuren des Christentums sehr deutlich.“ Allerdings würden diese Orientierungen inzwischen auch unabhängig vom Christentum existieren.
Das Kleinerwerden der Kirchen ist also aus unterschiedlichen Gründen nicht nur deren Privatangelegenheit, sondern betrifft die Gesellschaft insgesamt. Womöglich ist das der Grund, warum das Thema eine relativ große Resonanz in den Medien findet. „Manchmal frage ich mich, ob das nicht auch ein versteckter Ausdruck der Sorge ist, Kirche könnte irgendwann nicht mehr da sein“, sagt Stadtdekan Holger Kamlah, „und plötzlich fehlt irgendwas, von dem man merkt, man hätte es gebraucht.“
Würde etwas fehlen, wenn es die Kirche, so wie sie bisher war, nicht mehr gibt? Und was? Die Grünen-Politikerin Lamya Kaddor, selbst Muslimin, hat kürzlich vorgeschlagen, ehemalige Kirchen als kommunale Orte der Begegnung weiter zu betreiben. Vielleicht ist das keine schlechte Idee. Denn Anlaufstellen für die Nachbarschaft, Räume für Aktivitäten und Debatten, Zusammenkünfte, bei denen Menschen Zugehörigkeit erfahren können, werden gebraucht. Auch dann, wenn die traditionelle Volkskirche, die das früher einmal bereitgestellt hat, nicht mehr existiert.
1 Kommentar
Ergebnis des Beitrags von Antje Schrupp ist, dass wir uns unweigerlich auf eine Minderheitenkirche hinbewegen. Wurde eigentlich schon geprüft, ob die Minderheiten auch Kirchensteuer- Beitragszahler sind? Sonst bricht doch irgendwann das gesamte Kirchensystem zusammen. Vorschlag für eine der m. E. wichtigsten Maßnahmen: Viel Energie und Geld sollte jetzt für die Nachwuchsarbeit eingesetzt werden, um Jugendliche nach der Konfirmation z.B. als Teamer-innen an die Gemeinde zu binden.Das sehe ich als eine der wenigen Chancen, um zumindest einen Teil der Jugendlichen an die Kirche zu binden. Manches geschieht, aber viel zu wenig. Dr. Klaus Weichtmann