Kunst & Kultur

Die Gretchenfrage: Stadtrundgang zur Erinnerung an Susanne Margareta Brandt

Im Sommer 1771 – vor 250 Jahren – fand in Frankfurt ein tragischer Vorfall statt: Die Magd Susanne Margareta Brandt tötete ihr neugeborenes Kind, wurde daraufhin verhaftet und ein halbes Jahr später öffentlich hingerichtet. Einer, der den Prozess genau verfolgte, war Johann Wolfgang von Goethe. Die Leidensgeschichte der ungewollt Schwangeren zeichnet Pfarrer Jeffrey Myers anhand von Orten in Frankfurt nach, an denen Susanna Margaretha Brandt lebte und starb.

Faust und Mephisto bei Margaretha im Kerker. Lithographie von Joseph Fay (19. Jhd) | Wikimedia (cc)
Faust und Mephisto bei Margaretha im Kerker. Lithographie von Joseph Fay (19. Jhd) | Wikimedia (cc)

Am 1. August 1771 tötet die Frankfurter Magd Susanna Margaretha Brandt ihr neugeborenes Kind, wird kurz darauf verhaftet und fünf Monate später öffentlich hingerichtet. Johann Wolfgang von Goethe soll von der Person der Susanna und dem Vorfall so beeindruckt gewesen sein, dass die Tragödie um die Kindesmörderin Gretchen ein zentrales Motiv seines Faust wurde. Es gibt eine Reihe von teils nicht mehr existierenden historischen Stätten und Orten, die sich anhand von Berichten und Bildmaterial zu einem Rundgang „Auf den Spuren der Susanna Margaretha Brandt“ verbinden lassen.

An der Staufenmauer
Susanna Margaretha Brandt war am 8. Februar 1746 in Frankfurt geboren worden, wo sie als Waise aufwuchs. Sie arbeitete im Gasthaus „Zum Einhorn“ als Dienstmagd bei der Witwe Bauer. Das Gasthaus ist auf einem Stadtplan von 1861 eingezeichnet, und zwar in der schmalen Gasse „Am Judenbrückchen“ an der Staufenmauer. Kurz vor Weihnachten 1770 wurde Susanna von einem Goldschmiedegesellen aus Holland, der auf der Wanderschaft als Gast in der Herberge abgestiegen war, geschwängert, vielleicht auch vergewaltigt: Nach ihrer Aussage hatte er sie zum Wein eingeladen, womöglich auch ein Pulver in den Wein getan, denn „es sei ihr so seltsam zumute geworden, sie habe sich nicht mehr erwehren können, der Teufel müsse seine Hand im Spiel gehabt haben“.

Die Schwangerschaft verheimlichte die 24-Jährige vor ihren beiden Schwestern und ihrer Wirtin, obwohl diese schon bald Verdacht schöpften. Am Abend des 1. August brachte Brandt in der Waschküche schließlich einen Jungen zur Welt. Es war eine Sturzgeburt, das Kind fiel mit dem Kopf voran auf den Steinboden. Aus Angst und Verzweiflung soll Susanna Margaretha das Kind getötet und anschließend im Stall an der Staufenmauer verborgen haben. Sie hoffte damit, „der Scham und dem Vorwurf der Leute zu entgehen“, wie es in den Prozessakten heißt.

Als die Stadttore Frankfurts am nächsten Morgen geöffnet wurden, floh die in Panik geratene junge Frau mit dem Marktschiff nach Mainz. Schon am nächsten Tag kehrte sie jedoch nach Frankfurt zurück und wurde am Bockenheimer Tor festgenommen.

Heilig-Geist-Krankenhaus
Die Verhaftete wurde zunächst auf die Hauptwache gebracht, dann auf den Katharinenturm und schließlich in das Heilig-Geist-Spital. Die kleine Straße „Am Geistpförtchen“ an der Saalgasse erinnert noch heute an die Stätte des Heilig-Geist-Spitals in der ehemaligen Altstadt. Das direkt am Main erbaute mittelalterliche Gebäude wurde im 19. Jahrhundert abgerissen und durch einen Neubau ersetzt, der sich heute noch in der Lange Straße befindet. Damals diente das Heilig-Geist-Krankenhaus als Schauplatz der rechtsmedizinischen Untersuchung der Kindsleiche sowie einiger Verhöre von Susanna.

Bei der ersten Vernehmung im Spital am 4. August 1771 unternahm die Verhaftete den aussichtslosen Versuch, die Tat zu leugnen: Das Kind sei tot geboren und habe die Verletzungen durch einen zufälligen Fall auf die Steinplatten der Waschküche erhalten. Doch dafür war der Leichnam des Kindes zu sehr verstümmelt. Wenig später gestand sie die Tat.

Römer
Nach achtwöchiger Vorbereitung tagte das Gericht vom 8. bis 12. Oktober 1771 im Römer. Das Strafverfahren fand nach damaligem Brauch ohne mündliche Verhandlung statt. Am 12. Oktober erging das erste Todesurteil, anschließend hatte der Verteidiger Zeit zum schriftlichen Plädoyer. Am 7. Januar 1772 wurde das Urteil bestätigt; es lautete auf Tod durch das Schwert; ein Gnadengesuch wurde bereits am nächsten Tag abgelehnt.

Goethehaus im Großen Hirschgraben
Der angehende Jurist Goethe hatte sich bereits in seiner Disputation vom 7. August 1771 an der Universität Straßburg mit der Frage beschäftigt, ob eine „Kindsmörderin“, so der damals übliche Begriff, zum Tode verurteilt werden sollte. Im dritten Stock des Hauses, in dem Johann Wolfgang Goethe seine Jugend verbrachte, schrieb er 1772 die Urfassung seines „Faust“ nieder und schöpfte dabei Details aus der Kriminalakte des echten Falles. Die Akten konnte er einsehen, weil er seit Ende August 1771 als Advokat in Frankfurt zugelassen war.

Liebfrauenkirche am Liebfrauenberg
An der Außenmauer der Kirche am Liebfrauenberg stand einst die Pietà, die sich heute innerhalb der Kirche befindet. Johann Wolfgang von Goethe – und sicherlich auch Susanna Margaretha Brandt – kannte diese Darstellung sicher gut, weil man beim Gang durch die Altstadt häufig daran vorbeikam. Dieses Andachtsbild soll Goethe zu dem Lied Gretchens im Faust inspiriert haben, in dem der Dichter die schwangere Margarete vor einem Andachtsbild verzweifelt beten lässt: „Ach, neige,/ Du Schmerzensreiche,/ Dein Antlitz gnädig meiner Not …“

Reformierte Kirche, Freiherr-vom-Stein-Straße 8
Susanna Margaretha Brandt gehörte der Reformierten Kirche an, deren Kirche sich heute in der Freiherr-vom-Stein-Straße 8 im Westend befindet. Zur damaligen Zeit war reformierter Gottesdienst im Stadtbereich verboten – dort war man lutherisch – weshalb die Gläubigen dafür ins benachbarte Bockenheim außerhalb der befestigten Stadtmauern gehen mussten. Erst 1789, 17 Jahre nach der Hinrichtung der Susanna Margaretha Brandt, wurde am Großen Kornmarkt eine prachtvolle Deutsch-reformierte Kirche erbaut, die jedoch nach ihrer Zerstörung 1944 nicht wieder aufgebaut wurde.

Katharinenpforte in Nähe der Hauptwache
An der Katharinenpforte hinter der heutigen Katharinenkirche befand sich das Gefängnis, in dem Susanne Margaretha Brandt inhaftiert war und auch ihre letzten Stunden vor der Hinrichtung verbrachte. Der Durchgang hieß ursprünglich „Bockenheimer Pforte“ und war eine Doppelpforte mit einem äußeren Tor und einem starken, viereckigen Turm, Erker und Laterne. Seit dem 15. Jahrhundert hieß das Tor Katharinenpforte nach der benachbarten Kirche. Nach einem Brand 1690 diente der wiederhergestellte Turm als städtisches Gefängnis. Von dort aus wurde Brandt am 14. Januar 1772, gegen 10 Uhr morgens, auf das Schafott unweit der Katharinenkirche und -pforte geführt, wo der Scharfrichter am Richtstuhl auf sie wartete.

„Der Nachrichter führte die Maleficantin mit der Hand nach dem Stuhl, setzte sie darauf nieder, band sie in zweyen Ort am Stuhl fest, entblößte den Hals und Kopf, und unter beständigem Zurufen der Herren Geistlichen wurde ihr durch einen Streich der Kopf glücklich abgesetzt.“ So formulierte der Ratsschreiber damals das grausame Geschehen.

Gutleuthof in Nähe des heutigen Westhafens
Die Leiche der Susanna Margaretha Brandt wurde außerhalb der Stadttore in der Gegend des heutigen Frankfurter Westhafens verscharrt, auf dem so genannten Gutleuthof. Der Gutleuthof war ein im 13. Jahrhundert entstandenes Lepra-Spital und der ehemals größte landwirtschaftliche Wehrhof vor den Toren Frankfurts. Auf dem dortigen Friedhof wurden unter anderen Hingerichtete und Suizid-Opfer vergraben. Die letzten Überreste der Anlage wurden in den 1970er Jahren abgerissen.

Die Gretchenfrage
Die Tragik des Vorfalls vor 250 Jahren in Frankfurt liegt nicht nur in der Tatsache, dass ein neugeborenes Baby getötet wurde, sondern auch in der Verzweiflung einer mittellosen, schwangeren, unverheirateten Frau, die angesichts der sozialen Verhältnisse keinen anderen Ausweg sah, sowie im unbarmherzigen Umgang der Justiz und der Bevölkerung mit ihr. Wie würde man heute mit einem solchen oder vergleichbaren Vorfall umgehen?

Die so genannte Gretchenfrage aus Goethes Faust, welche Margarete, genannt Gretchen, der Hauptfigur Heinrich Faust stellt – „Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?“ – lässt sich heute, leicht umgewandelt, erneut stellen: Wie hast du's mit der Barmherzigkeit und dem Mitgefühl, der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe?


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Regelmäßig veröffentlichen wir im EFO-Magazin Gastbeiträge von Frankfurter und Offenbacher Pfarrerinnen und Pfarrern oder anderen interessanten Persönlichkeiten.

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