Kunst & Kultur

Endlich wieder singen? Wenn nur das Einatmen nicht wäre!

Unter Corona mutierte das harmlose Chorsingen plötzlich zum gefährlichsten Hobby der Welt. Jetzt kommt es darauf an, die Rückkehr zu gestalten. Ein Erfahrungsbericht.

Silke Kirch ist Mitglied der Redaktion des EFO-Magazins.
Silke Kirch ist Mitglied der Redaktion des EFO-Magazins.

Zwei Meter zu jeder Seite – bei der ersten Chorprobe vor drei Wochen wurde mit einem Zollstock der Abstand zwischeneinander vermessen. In den vergangenen eineinhalb Jahren haben wir per Videocall versucht, den Kontakt zueinander und zur Musik nicht ganz zu verlieren. Denn wann es weitergehen würde mit dem gefährlichsten Hobby der Welt, war lange Zeit nicht absehbar. Jetzt also wieder live. Mit echten Körpern, sozusagen downgeloaded. Noch etwas ungewohnt und fremdelnd.

Trotzdem: Singen! Heaven on Earth. Erst einmal nur summen, etwas zögerlich das Einsingen, wie ferngesteuert vom Nachdenken darüber, welche Laute die mutmaßlich geringste Aerosolmenge produzieren. Geht ein M, ein D, ein K? Und die Vokale? Ein Klangteppich liegt in der Luft. Ein schwingender Post-Zoom-Akkord ohne technische Verzerrung. Ein Lockdown-gesättigtes Ausatmen: Let down, alles gehen lassen, Seelenbalsam. Wenn nur das Einatmen nicht wäre. Mit dem Luftholen schießen die Gedanken in den Kopf: Was atme ich jetzt ein? Denn trotz 3G, wo wenn nicht im Chor kann das Superspreaden locker weitergehen? Ich sehe schon die Schlagzeilen vor mir: CHORona: Warum Singen immer noch gefährlich ist – oder: 3G ja, Dreiklang nein! – oder: Religion reloaded: Warum sich das Corona-Virus unter dem Dach der Kirche immer noch besonders wohl fühlen kann.

Doch wir singen. Ich höre zwar erst einmal nichts von meinen Mitsänger:innen im Alt und gerate ins Schwimmen. Das lang vermisste Chorfeeling will sich nicht so recht einstellen. Von hinten klingt ein einzelner Bass zu mir hin, das tut gut. Eine kraftvolle Stütze, jedoch noch lange kein umfassender Chorsound. Wie wird aus der Vereinzelung wieder ein Chor? Lässt sich anknüpfen an vorpandemische Gewohnheiten? Warum stresst mich das alles mehr, als es mich freut?

Bei der zweiten Probe, an der ich teilnehme, ist dann plötzlich alles anders. Aufgrund einer neuen Verordnung der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau können Laienchöre mit bis zu 25 Teilnehmer:innen nun ohne Auflagen proben. Erwächst daraus ein neuer Chor? Gewiss. Ich fürchte jedoch, dieser verordnete Chor ist dann einer, in dem nicht alle, die wieder singen wollen, Platz haben werden. Denn manche brauchen Raum, sich vorsichtig wiederanzunähern. Wer aus gesundheitlichen, beruflichen oder familiären Gründen nach wie vor Ansteckungsrisiken minimieren muss, wird sich entscheiden müssen, was und wer ihm wichtig ist, wird auf Abstand gehen müssen oder sich ganz verabschieden. Solange nicht überall die Coronamaßnahmen aufgehoben werden können, werden Einzelne durch großzügige Lockerungen wie diese weiter eingeschränkt werden. Und wer ohnehin eher unsicher war, geht nun noch einmal ein paar Schritte zurück.

Chöre stiften Zusammenhalt. Sie öffnen Resonanzräume, in denen jede:r Einzelne und alle zusammen neu ins Lot kommen können. Chor ist ein Raum mit vielen Stimmen, die nur dann gut zusammenklingen, wenn es Zeit und Raum gibt, sich aufeinander einzustimmen. Ohne Mut, Phantasie und Kompromisse wird das in der gegenwärtigen Situation nicht gelingen können. Ein Chor aber, der nicht um Zusammenhalt ringt, wäre trauriger als jede verzweifelte Lockdown-Chorprobe vor dem Bildschirm.


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Dr. Silke Kirch studierte Germanistik, Kunstpädagogik und Psychologie in Frankfurt am Main und ist freie Autorin und Redakteurin.

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