Kunst & Kultur

Komplexe Verhältnisse: In „Saint Omer“ steht eine Kindsmörderin vor Gericht

Regisseurin und Drehbuchautorin Alice Diop behandelt in ihrem ersten Spielfilm „Saint Omer“ existenzielle Menschheitsthemen wie Schuld und Gerechtigkeit, Mutterschaft, soziale Hierarchie und gesellschaftliche Zwänge. Für die Evangelische Filmjury ist es der Film des Monats, Kinostart in Deutschland ist der 9. März.

Dass sie ihre Tochter getötet hat, steht fest. Aber warum? Szenenfotos mit Guslagie Malanda als Angeklagte Laurence Coly. |  Foto: Grandfilm
Dass sie ihre Tochter getötet hat, steht fest. Aber warum? Szenenfotos mit Guslagie Malanda als Angeklagte Laurence Coly. | Foto: Grandfilm

Zu Recherchen für ihr neues Buch reist die Schriftstellerin Rama (Kayije Kagame) in die nordfranzösische Kleinstadt Saint-Omer, wo ein aufsehenerregender Prozess stattfindet: Die senegalesische Studentin Laurence Coly (Guslagie Malanda) wird beschuldigt, ihre 15 Monate alte Tochter ermordet zu haben. Die Tatsachen – Coly hat das Kleinkind bei einbrechender Flut am Strand zurückgelassen, damit es stirbt – sind gesichert, unklar bleiben jedoch die Gründe und Motive, die eine resolute Richterin (Valérie Dréville) herauszuschälen versucht: War Coly egoistisch und des Kindes überdrüssig, wie der Staatsanwalt meint? War sie vom Kindsvater vernachlässigt worden? Von den ehrgeizigen Erwartungen ihrer Eltern überfordert? Hatten ihre Tanten im Senegal sie verhext, wie sie selbst behauptet? 

Regisseurin und Drehbuchautorin Alice Diop behandelt in ihrem Spielfilmdebut existenzielle Menschheitsthemen wie Schuld und Gerechtigkeit, Mutterschaft, soziale Hierarchie und gesellschaftliche Zwänge. Ihrer Geschichte liegt ein wahrer Fall zugrunde. Doch im Film schafft der Prozess keine Klarheit, sondern legt Vieldeutigkeit offen. Nicht das Gesetz, sondern der Mythos bietet einen Schlüssel zum Verständnis: Die antike Figur der Medea dient Rama als Interpretationsrahmen für ihr Buchprojekt. 

Mit komplexen und sorgfältig getexteten Dialogen stellt sich Diop in eine französische Filmtradition, die psychische Strukturen und unbewusste Beziehungsdynamiken durch Versprachlichung offenzulegen versucht. Gleichzeitig machen die langen, nahen Einstellungen von Kamerafrau Claire Mathon (Portrait einer jungen Frau in Flammen) auf schweigende, zuhörende Gesichter deutlich, dass dies kaum gelingen kann. 

In einer Zeit, in der Kulturkämpfe, Rassismus und Identitätspolitiken den öffentlichen Diskurs bestimmen, verteidigt Alice Diop mit diesem Film die Universalität humanistischer Ideen. Doch dies gerade nicht, indem nicht-westliche Traditionen und kulturelle Kontexte ausgelöscht, sondern indem sie integriert werden. Und indem die allen Kulturen gemeinsame Grundlage menschlicher Gesellschaften ins Zentrum gestellt wird, statt sie wie die patriarchale Tradition auszuschließen: Mutterschaft. 

Die Evangelische Filmjury empfiehlt "Saint Omer" als Film des Monats März. Er kommt in Deutschland am 9. März ins Kino.


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Antje Schrupp 227 Artikel

Dr. Antje Schrupp ist Chefredakteurin des EFO-Magazins. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com Mastodon: @antjeschrupp@kirche.social

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