Kunst & Kultur

Kirchen wie Trutzburgen: Vor 100 Jahren starb der Architekt Friedrich Pützer

In seiner kurzen Lebensspanne von wenig mehr als 50 Jahren schuf Friedrich Pützer bedeutende Bauten, darunter auch drei Kirchen in Frankfurt und Offenbach. Nach seinem Tod geriet der Architekt zu Unrecht in Vergessenheit.

Kompakt gebaut: die von Friedrich Pützer (1871-1922) entworfene Lutherkirche in Offenbach. | Foto: Stefan Buch
Kompakt gebaut: die von Friedrich Pützer (1871-1922) entworfene Lutherkirche in Offenbach. | Foto: Stefan Buch

Der Architekt Friedrich Pützer, Professor für Baukunst an der Technischen Hochschule Darmstadt von 1902 bis 1922, hat im Rhein-Main-Gebiet vielfältig gewirkt. Seit 1908 war Pützer Kirchenbaumeister der Evangelischen Landeskirche in Hessen. Insgesamt 14 vom Darmstädter Jugendstil inspirierte Kirchen wurden nach seinen Plänen gebaut, bis auf eine alle evangelisch. Vor 100 Jahren, am 31. Januar 2022 starb Friedrich Pützer in Frankfurt.

In Offenbach und Frankfurt sind drei Pützerkirchen zu finden, die älteste, die Frankfurter Matthäuskirche an der Friedrich-Ebert-Anlage in der Nähe des Messegeländes, errichtet 1905, wurde 1944 zerstört und in den 50er Jahren der alten Anlage folgend neu aufgebaut. In Offenbach entstanden 1911–14 etwa zeitgleich die Lutherkirche in der Waldstraße sowie die Friedenskirche.

Neben Tattoo-Laden, Nagelstudio und Eckkneipe reiht die Offenbacher Lutherkirche in der Waldstraße sich heute fast übergangslos in die Fassadenreihe des Straßenzugs ein, zugleich aber hebt der massive Bau von immenser Breite sich augenfällig von ihr ab. „Eine feste Burg ist unser Gott“ prangt über dem doppelten Hauptportal, das von zwei Seiteneingängen flankiert wird. Eine wahre Trutzburg, streng symmetrisch gegliedert, fast etwas abweisend wirkt sie von außen. Pützer hat die Kirchenanlage darauf ausgerichtet, zwei Gemeinden zu integrieren, denn aufgrund der Stadterweiterung zu Beginn des 20. Jahrhunderts fehlten Gottesdiensträume, zugleich war der finanzielle Rahmen eng.

Jugendstil-Ornamente im Altarraum der Lutherkirche. Hier sind sie erhalten, in vielen anderen Kirchen wurden sie in den 1950er Jahren übertüncht. | Foto: Stefan Buch
Jugendstil-Ornamente im Altarraum der Lutherkirche. Hier sind sie erhalten, in vielen anderen Kirchen wurden sie in den 1950er Jahren übertüncht. | Foto: Stefan Buch

Die strenge imposante Symmetrie setzt sich hinter dem Hauptportal fort: Über eine Zwillingstreppe geht es in den ersten Stock, wo der Gottesdienstraum liegt, dessen farbenfrohe, ornamentale Jugendstil-Malerei einen starken Kontrapunkt zur Fassadengestaltung bildet. Sie war nach dem Krieg übertüncht worden und wurde in den 1980er-Jahren wiederhergestellt. Im Erdgeschoss darunter befindet sich ein Gemeinderaum – eine mit Blick auf Grundstückspreise kostengünstige Anordnung. Sie lässt sich ebenso in der etwa zeitgleich erbauten Offenbacher Friedenskirche wie auch in der Frankfurter Matthäuskirche finden. Daneben beherbergt das Gotteshaus – auch das ist für Pützerkirchen typisch – Amtszimmer, Gemeindebüro, Wohnungen für Pfarrer, Küster und Kantor. Alles unter einem Dach.

„Gruppenanlage“ nannte man das, dem kirchenpolitischen Programm des Pfarrers Emil Sulzes folgend. Dessen Ideen einer lebendigen Gemeinde und „Gemeinschaftspflege“ waren grundlegend für den Reformprozess der evangelischen Kirche im ausgehenden 19. Jahrhundert, was auch zu einer veränderten Auffassung des Kirchenbaus führte: Die modernen Kirchengebäude der Jahrhundertwende sollten weniger Sakralraum als Versammlungsraum und Gemeindezentrum sein. Man hatte erkannt, dass das Gemeindeleben nicht nur Gottesdiensträume brauchte und verband beides zu einer Einheit. Wegweisend wurde diese neue Auffassung von Kirche mit dem Wiesbadener Programm von 1891, das die Grundlage für Pützers Arbeit als Kirchenarchitekt bildete.

So sah der Kirchenraum der Lutherkirche nach der Fertigstellung 1914 aus.
So sah der Kirchenraum der Lutherkirche nach der Fertigstellung 1914 aus.

Mit dem Wiesbadener Programm strebte die Evangelische Landeskirche Hessen an, ihren Gebäuden ein einheitliches und Einheits-stiftendes Erscheinungsbild zu verleihen. Damit verbunden war zugleich ein liturgisches Konzept: Die Gestaltung des Gottesdienstraumes hatte einer strengen Ordnung zu folgen. Die Einheit der Gemeinde stand im Zentrum, Seitenschiffe und Chorraum wurden aufgegeben. Altar, Kanzel und Orgel sollten hintereinander angeordnet auf einer Sichtachse liegen. Mit dem Wiesbadener Programm verbunden war eine schrittweise Abkehr von historischen beziehungsweise historisierenden Baustilen, wie sie in der Gründerzeit in Mode waren. Das Funktionale rückte gegenüber einer romantisierenden, rückwärtsgewandten Tendenz in den Vordergrund.

Nicht alle Pützerkirchen sind von so massiver Größe wie die in Offenbach und Frankfurt oder wie die bekannteste Pützerkirche, die Lutherkirche in Mainz. Auch wahre Kleinode sind dabei wie etwa die Evangelische Pfarrkirche in Budenheim im Landkreis Mainz – damals Großherzogtum Hessen – oder die Gustav-Adolf-Kirche in Wald-Michelbach. Während in den 50er-Jahren vielerorts die Jugendstilmalerei in den Kirchen übertüncht oder hinter schlichten Holzdecken versteckt wurde, sind sie in diesen beiden Kirchen wie in der Offenbacher Lutherkirche erhalten oder wurden wiederhergestellt. Die Malerei in der Budenheimer Kirche übrigens stammt aus der Hand des Offenbacher Kunstmalers Richard Throll, der 1919 in Offenbach auch für die Innenausstattung der Synagoge zuständig war.

Friedrich Pützer, um 1905.
Friedrich Pützer, um 1905.

In einer Lebensspanne von wenig mehr als 50 Jahren hat Friedrich Pützer ein immenses Werk hinterlassen, blieb jedoch lange Zeit vergessen. Darmstädter Hauptbahnhof, verschiedene Gebäude auf der Mathildenhöhe, Paulusviertel und Pauluskirche in Darmstadt und viele andere bedeutende Anlagen des modernen künstlerischen Städtebaus entstanden nach seinen Plänen. In der Kölner Werkbundausstellung 1914 war seine Kirchenbaukunst in einer Reihe mit den Arbeiten wegweisender Architekten wie Henry van der Velde, Walter Gropius oder Bruno Taut zu sehen.

Bestand zu Pützers Zeiten ein Mangel an Kirchengebäuden, gibt es sie heute, in Zeiten schrumpfender Gemeinden, im Überfluss. Gerade deshalb aber liegt das Pützersche Konzept womöglich im Trend. Seine Vision einer lebendigen Gemeinde, die in eine Vielzahl von Haupt- und Nebenschauplätze gegliedert ist und doch unter einem Dach vereint, bleibt aktuell.

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Silke Kirch 55 Artikel

Dr. Silke Kirch studierte Germanistik, Kunstpädagogik und Psychologie in Frankfurt am Main und ist freie Autorin und Redakteurin.

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