Leben & Alltag

Den Realschulabschluss in der Tasche und eine Lebensperspektive vor Augen

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Der Abbruch der Schullaufbahn ist nichts Endgültiges. Das Projekt Viadukt des Evangelischen Vereins für Jugendsozialarbeit verhilft in Zusammenarbeit mit der Philipp-Holzmann-Schule zu einem gelingenden neuen Anlauf. Und es stärkt die Einzelnen bei der Suche nach der eigenen Persönlichkeit.

Die ersten Absolvent:innen von Viadukt feiern ihren Abschluss. I Foto: Evangelischer Verein für Jugendsozialarbeit
Die ersten Absolvent:innen von Viadukt feiern ihren Abschluss. I Foto: Evangelischer Verein für Jugendsozialarbeit

Einen Schulabschluss zu erreichen im Rahmen eines klassischen Weges von der Schultüte bis zum Abschlusszeugnis ist nicht für alle jungen Menschen in Deutschland eine Option. Die Gründe, die dies verhindern, reichen von persönlichen familiären Herausforderungen bis hin zu einem Flucht- oder Migrationshintergrund. Die Gründe sind ebenso so vielfältig und individuell wie Menschen.

Hier setzt das Projekt Viadukt des Evangelischen Vereins für Jugendsozialarbeit mit dem externen Realschulabschluss an, dem sogenannten „Nicht-Schüler“–Abschluss, den man sonst mittels des Besuchs einer Abendrealschule oder auch von kostenpflichtigen Kursen erlangen kann. Das Projekt, gedacht für junge Menschen zwischen 16 und 22 Jahre, startete 2019. Es ermöglicht, tagsüber und ohne Kosten einen Kurs zu besuchen. Umgesetzt wird Viadukt in Zusammenarbeit mit der Phillip-Holzmann-Schule.

Viadukt kennzeichnet, dass neben dem Kompetenzaufbau und der Wissensvermittlung in den Fächern, die zur Erlangung der sogenannten „Mittleren Reife“ notwendig sind, insbesondere Kompetenzen vermittelt werden, die für das Berufsleben entscheidend sind. Ein Fokus liegt darauf, Selbstständigkeit und die Übernahme von Verantwortung für sich, aber auch für das gesamte Projekt zu vermitteln.

Eingehen auf unterschiedliche Bedürfnisse und Lebenswege

Großen Wert wird bei dem Projekt daraufgelegt, so individuell wie möglich alles zu gestalten. Da die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sehr unterschiedliche Bedürfnisse und Lebenswege mitbringen, es beispielsweise äußerst diverse kulturelle Hintergründe sowie eine große Altersspreizung gibt, werden persönliche Wochen- und Monatspläne entwickelt. Das individuelle und eigenverantwortliche Lernen wird von den pädagogischen Fachkräften auf die jeweiligen Bedürfnisse ausgerichtet. Neben Schulischem werden auch Sozialkompetenzen wie Arbeits-, Lern- und Sozialverhalten gefördert und die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit.

Begleitung auch in Corona-Zeiten durch vielfältiges Lehrteam

Neben Projektleiterin Andrea Klingenhäger, die die Fächer Englisch, Gesellschaftslehre und Berufsorientierung unterrichtet, gehören Christina Schaffroth, Mathematik und Biologie, Wassili Klisiari, Deutsch, Merve Yüksetepe, Deutschförderung und Barbara Reinhardt, die in punkto Mathematik unterstützt, zu dem Team, das aktuell 14 Teilnehmer:innen begleitet.

Nahezu durchgehend hat das Team auch in Corona-Zeiten Präsenzunterricht gehalten. Frühzeitiges und stetes Testen, ein Luftfilter und regelmäßiges Fensteröffnen haben dies ermöglicht. „Es war nicht einfach, zum Teil in dicken Jacken und mit Mützen den Unterricht durchzuführen, aber für unsere Klientel ist online Unterricht keine Option, da sie intensive Begleitung brauchen und auch in ihren jeweiligen Unterkünften die technischen Voraussetzungen mit Computern und einer Internetverbindung nicht vorfinden“, so die Leiterin der Projektes Klingenhäger.

Viadukt ist ein Kooperationsprojekt, das der Evangelische Verein für Jugendsozialarbeit gemeinsam mit der Cronstett- und Hynspergischen evangelischen Stiftung zu Frankfurt am Main sowie mit Unterstützung des Ausbildungs- und Qualifizierungsbudgets des Landes Hessen und der ProRegion – Flughafen-Stiftung zur Förderung der beruflichen Bildung realisiert. Immer wieder gibt es auch andere Unterstützer:innen, der Inner Weel Club Frankfurt beispielsweise steuerte Mittel bei, damit die Viadukt Teilnehmerinnen für den Unterricht mit Tablets ausgestattet werden konnten und auch dadurch die individuelle Förderung unterstützt wurde.

Stimmen der ersten Absolvent:innen

Im Sommer gab es die ersten Abschlüsse von Absolvent:innen des Projektes. „Dass sie heute hier stehen und ihre Zeugnisse in Empfang nehmen können, ist eine großartige persönliche Leistung von Ihnen. Sie haben es geschafft, aus einer eigenen Motivation heraus, einen scheinbar schon vorgezeichneten Weg zu verlassen und sich einer Herausforderung zu stellen, die Ihnen neue Möglichkeiten und Wege einer beruflichen Perspektive eröffnet.“, sagte Miriam Walter, Geschäftsführerin des Evangelischen Vereins für Jugendsozialarbeit bei dem Fest anlässlich der Abschlüsse.

„Ich habe hier nicht nur Mathe oder Physik gelernt, sondern auch viele Dinge, die man lernen muss. Wir sind hier richtig erwachsen geworden. Ich habe viele Lehrer:innen gesehen, aber die Lehrer:innen hier sind was besonderes, sie sind nicht wie normale Lehrer:innen. Hier waren wir wie eine kleine Familie. Ich weiß es nicht, ob es ein Lernprojekt ist oder eine Familie mit 16 verschiedenen Geschwistern“, fasste Zabi, 22, seine Erfahrungen mit Viadukt zusammen. Er hat sich bereits vor dem Abschluss bei der Deutschen Bahn und bei Siemens für einen Ausbildungsplatz als Elektroniker beworben und von beiden Unternehmen ein Angebot erhalten.

Lulu, die inzwischen an der Fachoberschule Berta Jourdan den Schwerpunkt Soziales belegt, hat dem Viadukt-Team einen Dankesbrief geschrieben. Darin heißt es unter anderem: „Hättet Ihr mich vor ein paar Jahren gesehen, würde man denken, dass ich mir mit 17 schon alles verbaut hatte. Ich hatte viele psychische Probleme und keine Träume und Ziele. Und ich hatte auch gar kein Selbstwertgefühl.“ In ihrem Überschwang über „die Engel“, die für sie ein Segen waren, die ihr zu Selbstbewusstsein verholfen haben für den eigenen Lebensweg, schreibt sie, am Anfang „war alles irgendwie Freestyle, aber mit der Zeit und mit der Hilfe unserer Lehrerinnen haben wir alle Krisen (Corona) in unserem Leben gelöst.“

Es gibt sicher Tage, an denen Lulu wieder in Krisen gerät, coronabedingte und andere, aber Viadukt hat sie darin gestärkt, Wege daraus zu finden. Und einen Realschulabschluss hat sie nun auch in der Tasche.


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