Leben & Alltag

Hoffnung auf ein neues Wir

Was macht die Corona-Pandemie mit unseren Beziehungen? Der Streit um die richtigen Gegenmaßnahmen reicht manchmal bis in Familien- und Freundeskreise hinein. Ein Plädoyer für Aufrichtigkeit in der Diskussion – aber auch dafür, gnädiger miteinander umzugehen.

Anne Lemhöfer ist Mitglied in der Redaktion des EFO-Magazins.
Anne Lemhöfer ist Mitglied in der Redaktion des EFO-Magazins.

Der Advent ist eine Zeit der Hoffnung, und das gilt für diese Vorweihnachtszeit ganz besonders: Wir alle hoffen so sehr, irgendwann in der ersten Hälfte des kommenden Jahres wieder halbwegs normal leben können. Normal, das heißt: gemeinsam. Wir wollen uns verabreden, gemeinsam ins Kino oder auf Konzerte gehen, in großer Kneipenrunde bis in die frühen Morgenstunden reden, wir wollen mit der Verwandtschaft feiern und mit dem Kirchenchor singen.

Aber wie wird das werden? Sind wir eigentlich noch dieselben wie vor zehn Monaten? Was hat diese Pandemie mit unseren Beziehungen gemacht? Können wir so tun, als habe es all das, was da über uns hereingebrochen ist, nicht gegeben? Wir haben zusammen gegen Corona gekämpft, aber uns auch übereinander geärgert. Über die Nachbarin, deren Schutzmaske immer so demonstrativ unterm Kinn hing. Über die Freundin, die uns in Gewissensnot brachte, weil sie auf die Feier zu ihrem 40. im Juli trotz allem nicht verzichten wollte. Wir haben ungläubig erfahren, dass die Cousine an einer Demo der so genannten Querdenker:innen teilgenommen hat. Wir haben mit alten, eigentlich intelligenten und vernünftigen Freund:innen ellenlange Facebook-Nachrichten ausgetauscht, weil sie plötzlich krude Verschwörungstheorien verbreiteten. 

Oder anders herum: Wir wurden belehrt, wenn wir beim Spaziergang im Park aus Versehen das Abstandsgebot missachteten oder selbst einmal gedankenverloren die Maske unter der Nase trugen beim Einkaufen. Wir haben uns über das pikierte „Ach so, ihr verabredet eure Kinder noch...“ anderer Mütter geärgert. Wir haben uns gestritten, die Köpfe übereinander geschüttelt, mit dem Finger auf Menschen gezeigt, die sich aus unserer Sicht zu leichtfertig oder zu penibel verhielten. Nachbarinnen haben Nachbarn denunziert, weil das Stimmengewirr zu vieler Menschen durch die Wand drang. Wir haben unsere persönlichen Grenzen abgesteckt – und waren ehrlich entsetzt, wenn wir auf Zeitgenoss:innen trafen, denen die Gesundheit und das Leben anderer Menschen offenbar wenig bedeutete. Aus Bösartigkeit – oder weil sie es nicht besser wussten?

Und jetzt? Irgendwann fallen all diese Regeln, denen wir uns auf ganz unterschiedliche Weisen genähert haben, wieder weg. Können wir dann wieder zusammenfinden? Zusammenfinden in den Familien und Freundeskreisen, Nachbarschaften und an den Arbeitsplätzen, aber auch als Gesellschaft? Es wäre zu hoffen. Auch wenn es nicht leicht werden wird. Nicht immer lässt sich das Gefühl verscheuchen, dass es doch allzu viel über einen Menschen aussagt, der sich nicht mehr so um das Wir, um das Wohl anderer, schert, wenn es seine Komfortzone berührt. Aber wir müssen auch gnädig sein – mit uns selbst und den anderen. Es war für alle die erste Pandemie ihres Lebens, Verhaltensmuster mussten neu eingeübt werden, Routinen geschaffen, manches revidiert werden. Nicht jede und nicht jeder konnte dabei Schritt halten.

Es wird wichtiger denn je sein, dass wir reden. Über das, was war, und das, was jetzt kommt. Schön, wenn wir auch verzeihen und nachsehen können. Vielleicht kristallisiert sich aber auch genau in solchen gesellschaftlichen Krisen heraus, wer uns wirklich wichtig ist, mit wem wir durchs Leben gehen wollen. Vielleicht haben sich unsere sozialen Kreise erst einmal verkleinert – was gewöhnungsbedürftig, aber vielleicht gar nicht so schlimm ist.


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Anne Lemhöfer 139 Artikel

Anne Lemhöfer interessiert sich als Journalistin und Autorin vor allem für die Themen Kultur, Freizeit und Gesellschaft: www.annelemhoefer.de

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