Umgang mit dem Tod: Kinder trauern anders als Erwachsene
„Ich hab’ mich nie mit meiner Mama gestritten“, sagt Maria (Namen aller Kinder geändert). Die Achtjährige überlegt kurz. Dann schiebt sie hinterher: „Nur, wenn ich kein Fernsehen gucken durfte“. Marias Mutter ist vor mehr als zwei Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben. Sie war mit dem Auto auf der Autobahn unterwegs, ein Lastwagenfahrer schlief am Steuer ein. Mit ihrem Bruder Niko kommt Maria regelmäßig zu den „Lacrima“-Treffen der Johanniter Unfall-Hilfe in Frankfurt am Main. „Lacrima“ ist eine spendenfinanzierte Trauerbegleitung speziell für Kinder und Jugendliche.
Kinder trauern anders als Erwachsene, nämlich sehr wechselhaft: Tiefe Traurigkeit schlägt plötzlich in fröhliches Spiel um. Erwachsene sind davon häufig irritiert. „Das ist aber eine sehr gesunde Reaktion“, erläutert der Psychologe Oliver Junker aus Kaufering bei München. „So nehmen sich die Kinder zeitweise aus Situationen heraus, die sie sehr belasten.“ Diese Art der Trauer müsse Kindern möglich sein, sagt er.
Bei den „Lacrima“-Treffen werde viel gelacht, bestätigt die Pädagogin und Kindertrauerbegleiterin Melanie Hinze. Sie leitet gemeinsam mit ihrer Kollegin Daphne Peter und einigen Ehrenamtlichen die Frankfurter Gruppe. „Die Kinder kommen in der Regel zwei bis zweieinhalb Jahre lang zu uns“, erklärt sie. „Diese Zeit brauchen die Kinder auch.“
Ein Jahr lang dauere die akute Trauer, ein weiteres Jahr bräuchten die Kinder, um neue Rituale einzuüben, wenn die wiederkehrenden Termine anstünden: „Das erste Ostern oder das erste Weihnachten ohne den Verstorbenen.“
Hinze erzählt von einer Familie, in der der Vater gestorben war. Der erste Geburtstag des Papas nahte. „Die Familie hat zusammen den Lieblingskuchen des Vaters gebacken“, sagt Hinze. „Aber weil der Vater den Teig immer am liebsten roh gegessen hat, haben wir ihnen gesagt, sie sollen zwei Teige machen.“ Aus dem einen buken sie einen Kuchen, den anderen vergruben sie in der Erde des Grabs. „Für die Kinder hatte der Vater so teil an seinem Geburtstag.“
Kinder verstehen erst mit zunehmendem Alter, was der Tod eigentlich ist. Als erstes begreifen sie nach den Worten des Psychologen Junker das Konzept der „Nonfunktionalität“ - der Körper funktioniert nicht mehr, Herz und Atmung stehen still. Dann verstehen sie, dass der Tod Ursachen hat, also keine Strafe ist.
Kleine Kinder beziehen den Tod noch oft auf ihr eigenes Handeln. „Ich hab’ mir gewünscht, dass die Mama tot sein soll, und jetzt ist sie wirklich tot“, denken sie dann zum Beispiel. Schließlich verstehen sie, dass der Tod unumkehrbar ist. Und auch, dass er zum Leben dazugehört.
Der Tod weckt in den Kindern Angst und Hilflosigkeit. Es sei enorm wichtig, ihnen diese Gefühle zu nehmen, erklärt Junker: „Was Kinder brauchen, ist Sicherheit. Die kann man ihnen zum Beispiel geben, indem man feste Rituale zunächst weiterführt.“ Das könne etwa das abendliche Vorlesen sein.
Kinder bräuchten außerdem Erinnerungsstücke an den Verstorbenen, die sie beispielsweise in einer Kiste sammeln könnten. „Die Kinder entscheiden dann selbst, was da hinein kommt“, sagt der Psychologe. Und sie müssten ihren emotionalen Stress abbauen können, durch Toben auf dem Spielplatz oder durch kreative Tätigkeiten wie Malen oder Basteln.
In der „Lacrima“-Gruppe liest Hinze den Kindern die Geschichte vom Trauerkloß vor, der in seiner dunklen Welt in einer Tüte unter einem Stapel Decken wohnt und mal größer, mal kleiner wird. „Sieht euer Trauerkloß so aus wie mein Trauerkloß?“, fragt sie ihre kleinen Zuhörerinnen und Zuhörer. Die zehnjährige Karolin, deren Vater an Krebs starb, meldet sich: „Nein. Weil jeder ist anders, und jeder trauert anders.“
Dann malen die Kinder ihren Trauerkloß. Denn Kinder, vor allem kleine, können ihre Gefühle mit kreativer Arbeit besser ausdrücken als mit Sprache. Nikos Kloß ist beige, hat gelbe Haare und blaue Zähne. „Am Anfang sind die Klöße sehr dunkel, im Lauf der Zeit werden sie dann heller“, erzählt Hinze. Oder die Kinder bauen Briefkästen, die sie ans Grab stellen. Dort können sie Briefe an den Toten oder die Tote einwerfen und bleiben so vom Gefühl her mit ihnen in Verbindung.
Jonas ist mit seinen drei Jahren der jüngste in der Gruppe. Er will lieber mit Duplo-Steinen spielen als malen. Seine Steine stellen ein Krankenhaus dar, mit OP, Patientenzimmern und einem Rettungswagen. „So beschäftigt er sich eben doch mit dem Thema“, erklärt die Kindertrauerbegleiterin.
Erwachsene wissen häufig nicht, wie sie mit Kindern umgehen sollen, die Vater oder Mutter verloren haben. Besonders schwer ist das für das lebende Elternteil. Dabei könne man eigentlich nur einen einzigen Fehler machen, sagt Hinze: „Nicht ehrlich sein.“ Denn die Kinder hätten dann ja nur noch ein Elternteil. „Und das Vertrauen zu dem, der bleibt, wird beschädigt, wenn er die Kinder anlügt.“
Nur einmal habe sie ein Kind für die „Lacrima“-Gruppe abgelehnt, berichtet sie. Dessen Vater habe Suizid begangen, aber die Mutter wollte nicht, dass der Sohn das erfährt. Konstruktive Trauerarbeit sei so nicht möglich, sagt Hinze.
Am Ende des „Lacrima“-Treffens zünden die Kinder Kerzen an und erzählen sich gegenseitig, woran ihre Angehörigen gestorben sind. Es geht reihum, jedes Kind kommt dran. Dann schlagen sie eine Klangschale an, und während der Ton verklingt, denken sie an ihre Mütter oder Väter.
Buchhinweise: Gertrud Ennulat: „Kinder trauern anders. Wie wir sie einfühlsam und richtig begleiten“; Herder Verlag 2009; 6,99 Euro
Zum Weiterlesen:
Amelie Fried/Jackie Gleich: „Hat Opa einen Anzug an?“; Carl Hanser Verlag 1997; 14,90 Euro
Leitfaden der Diakonie zur Begleitung trauernder Kinder (pdf)