Leben & Alltag

Vorwärts gelebt, rückwärts verstanden

Die Welt ist mobil wie noch nie. Fast niemand verbringt den Lebensabend noch dort, wo er geboren wurde. Irgendwann heißt das auch: Abschied nehmen von alten Häusern. Und von Lebenserinnerungen, die man nicht mitnehmen kann.

Fotos und Briefe bewahren Erinnerungen über Generationen hinweg. Und brauchen zum Glück nicht viel Platz. | Foto: Rui Camilo
Fotos und Briefe bewahren Erinnerungen über Generationen hinweg. Und brauchen zum Glück nicht viel Platz. | Foto: Rui Camilo

Ich erinnere mich noch genau an meinen ersten Besuch, es war im Jahr 1978. Meine Freundin zeigte mir auf dem Weg zu ihren Eltern, wie man die Kurven im hessischen Hinterland sportlich nehmen muss. In den Sitz des Audi 50 gepresst, staunte ich über eine Landschaft, die mich an Österreich erinnerte. Nur die Berge waren niedriger.

Und erst die Sprache! Der Sprachraum in Mittelhessen ist ein ganz eigener. Die ersten Tage verstand ich praktisch nichts. Aber im Lauf der Jahrzehnte habe ich mich eingehört, heute verstehe ich 98 Prozent.

Ich habe das Leben in dem kleinen Dorf Steinperf im Altkreis Biedenkopf lieben und schätzen gelernt. Doch nun gilt es, Abschied zu nehmen. Die Schwiegereltern sind lange verstorben, und auch wir können das Haus nicht mehr nutzen. Es muss geräumt werden.

Jedes Buch, jeder Schrank hat seine Geschichte. Man kann den Stolz nachvollziehen, wenn die Schwiegermutter vom Kauf des Küchenbüffets erzählte. Lange hatten sie sparen müssen. Der Dorfschreiner hatte es in Handarbeit hergestellt. Wie soll man da aussortieren? Welche Stücke möchte ich behalten? Was hat einen ideellen Wert?

Klar, Fotos wirft man nicht weg, die Alben finden irgendwo einen Platz. Auch die Bilder aus dem Krieg, die im Wohnzimmerschrank lagen. Mein Schwiegervater Otto stolz in Uniform. Er, den ich nur als eingefleischten Sozialdemokraten kannte. Wir finden briefmarkengroße Bilder von fremden Landschaften, wohl Frankreich. Und Gruppenbilder von Soldaten. Auch das alte Soldbuch ist da. Mit deutscher Gründlichkeit ist festgehalten, dass an den Gefreiten Feldmütze, Drillichzeug und Unterhose ausgegeben wurden. Auch eine Gasmaske. Schließlich die Eintragungen des Lazaretts. Lungensteckschuss, Kriegsgefangenschaft. Wie so viele Menschen seiner Generation sprach auch mein Schwiegervater nicht über seine Kriegserlebnisse. Wir hatten es gelegentlich versucht, aber viele Fragen bleiben unbeantwortet.

Zu den schöneren Funden gehört ein grauer Karton mit Briefen, überwiegend Glückwünsche zu unserer Hochzeit vor 38 Jahren. Aber es sind auch einige Briefe dabei, die wir uns geschrieben haben. Vergessen im Drempel des Dachgeschosses. Viele von denen, die uns damals gratuliert haben, sind nicht mehr unter uns. Wie Sören Kierkegaard schrieb: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“

Jeder Haushalt hat Geschirr. Meine Schwiegereltern hatten davon geradezu unvorstellbare Mengen. Die brauchte man auch, für Geburtstagsfeiern zum Beispiel – und zwar nicht für die runden, für die normalen! Schon drei Tage vorher wurde mit dem Backen begonnen. Tische und Stühle herbeigeschleppt, das Wohnzimmer umgeräumt. Meine ungläubige Frage, wer denn alles eingeladen sei, erntete nur verständnislose Blicke. Und tatsächlich: Pünktlich um drei Uhr nachmittags war das Wohnzimmer mit Nachbarn, Freundinnen und Verwandtschaft gefüllt. Auf jedem Tisch standen drei Torten, den Kaffee durften wir Jüngeren einschenken. Denn dass jeder Gast persönlich am Platz bedient wurde, gehörte dazu.

Kein Wunder also, dass in den Schränken mehrere Ess- und Kaffeeservices gestapelt sind, dazu zahllose Kuchenplatten und jede Menge Plastikbehälter für den Transport. Schließlich bekamen alle noch etwas vom Geburtstagskuchen mit nach Hause. Heute will niemand das Geschirr mehr haben. Selbst auf eBay erzielt es keine Nachfrage. So bleibt nur der Müllcontainer.

Genauso ist es mit den Büchern. Dass der Band über die Masuren uns zur Vorbereitung einer wunderbaren Fahrradtour diente? Egal. Es hilft ja nichts.

Von besonderem ideellen Wert sind natürlich die selbstgemachten Dinge. Die Intarsienarbeiten des Schwiegervaters, sei es als Bild oder als Verschönerung von Möbeltüren. Die Kommode, die er für seine Enkelin in der Tradition naiver Bauernmalerei gestaltete.

Mein Schwiegervater hatte alles, von der Maurerkelle bis zur Zollstocksammlung. Immer wieder erschallt beim Ausräumen der Ruf: „Oh, das ist noch vom Otto!“ Bis endlich einer der helfenden Freunde zu fragen wagt: Wer war denn eigentlich dieser Otto?

In der Erinnerung leben wir weiter. Das ist doch schön.


Autor

Kurt-Helmuth Eimuth ist Mitglied in der Redaktion von "Evangelisches Frankfurt und Offenbach". Mehr über den Publizisten und Erziehungswissenschaftler ist auf www.eimuth.de zu erfahren.

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