Politik & Welt

„Über soziale Probleme wurde in der Paulskirche gar nicht nachgedacht“

In diesem Jahr feiert die Stadt Frankfurt das 175. Jubiläum der Paulskirchenversammlung, des ersten deutschen Parlaments, das 1848 hier getagt hat. Jürgen Telschow hat das Verhältnis zwischen Nationalversammlung und evangelischer Kirche erforscht. In diesem zweiten Teil des Interviews sprechen wir über die lutherische Gemeinde in Frankfurt zu dieser Zeit und wie sich die evangelische Kirche damals zu Demokratie, revolutionärer Gewalt und sozialer Frage positioniert hat.

Jürgen Telschow beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Geschichte der evangelischen Kirche in Frankfurt. | Foto: Rolf Oeser
Jürgen Telschow beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Geschichte der evangelischen Kirche in Frankfurt. | Foto: Rolf Oeser

Sie haben die Möglichkeit, sich das Gespräch von Antje Schrupp mit Jürgen Telschow im Podcast anzuhören oder es zu lesen.


Herr Telschow, Sie haben sich auch mit der Frage beschäftigt, wie die Frankfurter Nationalversammlung 1848 in Frankfurt in den Gottesdiensten begleitet wurde. Auch in der lutherischen Gemeinde herrschte anfangs eine große Begeisterung, aber im Lauf der Monate kühlte die Begeisterung ein bisschen ab.

Die Entscheidung, dass es solch eine Nationalversammlung geben sollte, ist ja nicht von den Revolutionären getroffen worden, sondern vom Deutschen Bund, also vom bisherigen Establishment, das glaubte, damit die revolutionären Triebe relativieren, eingrenzen, einhegen zu können. Als das bekannt wurde, war allein die Tatsache, dass es sowas geben sollte, ein Anlass, dass Leute sich gefreut haben, auch in Frankfurt. Der eigentlichen Nationalversammlung ging das so genannte Vorparlament voraus, ab Ende März 1848. Das war eine Versammlung von Vertretern verschiedener Gruppierungen, die schon in den Jahrzehnten vorher reformfreudig gewesen waren. Als die hier eintrafen, hat der lutherische Pfarrer Gerhard Friederich eine begeisterte Begrüßungsansprache gehalten. Seine Predigt fing so an: „Wie viele Edle aus Deutschlands Volksvertretern haben wir unter uns mit unermesslichem Jubel begrüßt. Welch hohe herrliche Worte, den Ausfluss begeisternder Gesinnung für das Heil des Vaterlandes aus ihrem Mund vernommen. Wir haben binnen wenigen Wochen geistig Jahrhunderte durchlebt.“


Ja, das klingt schon sehr ergriffen.

Nun, vielleicht redete man damals nicht ganz so nüchtern, wie wir heute. Aber das war nicht Herr Friederich speziell, sondern hat durchaus eine Stimmung der Zeit getroffen. Es gibt auch andere Ansprachen und Predigten aus der Zeit, die nicht ganz so überschwänglich sind, aber wo eben doch mit Freude begrüßt und darauf hingewiesen wird, dass es notwendig ist, endlich die Gleichheit in der Gesellschaft zu haben, keine adligen Vorrechte mehr und dergleichen. Aber dann auch die Mahnung, bei anderen stärker als bei Pfarrer Friederich, dass hoffentlich alles ruhig und gesittet bleibt. Im März hatte es in Berlin eine gewalttätige Revolution gegeben mit dreihundert Toten, und man hatte Angst, dass sowas deutschlandweit passieren könnte. Die Frankfurter waren ja auch nicht ganz ohne Erfahrung, denn hier hatte es 1833 schon mal einen Sturm auf die Konstabler- und die Hauptwache gegeben.


Was war da passiert?

Damals hatten vor allen Dingen Studenten versucht, diese beiden Wachen zu erobern und politische Gefangene freizulassen. Sie hatten gehofft, dass die Bevölkerung sich auf ihre Seite schlägt und geglaubt, das könnte ein zündender Funke für eine Revolution sein. Das war aber nicht besonders gut vorbereitet. Es waren ungefähr sechzig Leute, 14 wollten die Hauptwache erobern und 16, glaube ich, die Konstablerwache, und in Bonames gab es noch eine weitere Ansammlung, es randalierten Leute im Zollhaus in Preungesheim. Aber als sie hörten, in Frankfurt läuft das nicht so, haben sie sich wieder verteilt. Das Frankfurter Militär hat damals in einer halben Stunde die Sache niedergeschlagen.


Die Bevölkerung hat also nicht mitgezogen.

Nein, aber es ist geschossen worden, es hat Tote gegeben, mehr noch unter den Soldaten als unter den Aufständischen. Das war 1848 in den Köpfen der Frankfurter noch präsent, also sie wussten, sowas könnte auch passieren. Und bei der so genannten Septemberrevolution ist es dann ja auch passiert.


Worum ging es dabei?

Zeitgleich mit der Paulskirchenversammlung gab es einen Konflikt zwischen Dänemark und Holstein. Schleswig und Holstein waren eigentlich Herzogtümer, aber über dynastische Verbindungen mit dem dänischen Königshaus verknüpft. Wenn man es jetzt mal ganz grob sieht, gehörte Holstein zum Deutschen Reich und Schleswig nicht. Aber dann haben die Holsteiner einen Krieg mit Dänemark angefangen, denn sie wollten, dass auch Schleswig unabhängig wird. Daraufhin hat der Deutsche Bund preußische und österreichische Hilfstruppen hingeschickt, die im Sommer 1848 bis weit nach Nord-Schleswig vorgedrungen waren, also nach Dänemark rein. Doch dann haben die Großmächte Druck ausgeübt und Preußen praktisch gezwungen, einen Waffenstillstand zu schließen. Darüber hat sich wiederum die Nationalversammlung aufgeregt, und es gab heftigste Diskussionen darüber, dass der Bund Schleswig-Holstein vereinen soll. Das war der Anlass, warum am 18. September 1848 hier in Frankfurt ein paar Hundert Aufständische auf den Straßen waren.


Wie lief der Aufstand ab?

Der Bund hat sofort aus Mainz und Darmstadt Militär hierhergebracht. Aber bevor die Truppen da waren, ritten zwei hohe Offiziere, beide Mitglieder der Paulskirchenversammlung, auf die Bornheimer Heide, das ist heute westliches Nordend ungefähr, um zu „rekognoszieren“, wie es so schön hieß, also auszukundschaften, was da los war. Die wurden dort von einer Volksmenge gelyncht. Das hat dann wieder zu noch verschärfterem Eingreifen des Militärs geführt, und dann wurden ungefähr sechzig Barrikaden hier in der Stadt aufgerichtet. Es hat eine ganze Anzahl Tote gegeben.


Wie hat die lutherische Gemeinde in Frankfurt darauf reagiert?

Es gibt eine Predigt nach dieser sogenannten Septemberrevolution, wo an die hehren Ziele erinnert und ein Bibelwort zitiert wird, sinngemäß: Sei langsam mit der Zunge und schnell mit dem Denken. Also: Warum habt ihr nicht erst in Ruhe nachgedacht? Die Stimmung war, dass hehre Ziele mit nicht zu verantwortenden Mitteln verfolgt worden sind.


Das heißt, die Kritik bezog sich nur auf die Gewalt, aber nicht darauf, dass vielleicht die Inhalte zu radikal gewesen wären?

Ja, wobei man sagen muss, es hat in den zwanziger und dreißiger Jahren, auch in den vierziger Jahren eine Reihe von Hungeraufständen in Deutschland gegeben. Auch in Frankfurt hatte es im Mai 1848 ein Aufbegehren der Bäckergesellen gegeben, die mit ihren Arbeitsbedingungen nicht zufrieden waren. Wie überhaupt im Jahr 1848 die Arbeiterbewegung einen erheblichen Schub bekommen hat. Das ist auch nicht verwunderlich, wenn man sich anschaut, wer in der Paulskirchenversammlung saß, und dass dort an die sozialen Probleme überhaupt nicht gedacht wurde.


Diese Frage ist ja bis heute aktuell: Ein bürgerlicher Parlamentarismus, der nur formale Gleichheit in politischer Hinsicht postuliert, vergisst die sozialen Ungleichheiten. Wie hat sich die evangelische Kirche in der sozialen Frage positioniert? Auf der Seite von Zucht und Ordnung?

Ja, wenn man so will. Man denke nur an die Ikone Wichern zum Beispiel.


Also an den Theologen und Sozialreformer Johann Hinrich Wichern, der auch als Erfinder der Diakonie gilt.

Nun ja, er hat nicht die Diakonie erfunden, sondern die Innere Mission. Das ist ein kleiner Unterschied.


Inwiefern?

In den vierziger Jahren haben sich alljährlich hier in Frankfurt auf dem Sandhof konservative Theologen aus dem Rhein-Main-Gebiet getroffen und theologisch ausgetauscht, inhaltlich immer mit der Richtung gegen den Rationalismus und gegen die moderne Theologie. Angesichts der Paulskirchenversammlung und dieser Bewegung waren sie auf die Idee gekommen, man müsse einen großen deutschen „Kirchentag“ einberufen – da taucht dieser Begriff zum ersten Mal auf –, wo sozusagen die geistigen und geistlichen Kräfte gegen dieses ganze Aufrührerische gesammelt werden. Im Sommer 1848 fand dann in Wittenberg ein solcher Kirchentag statt, ein Treffen der Konservativen.


Also parallel zur Nationalversammlung.

Genau. Und als großer Star tauchte dort Wichern auf, und hat das Programm der inneren Mission gegen die Paulskirche und gegen Reformen und gegen Revolutionen entwickelt. Seine Idee war, man müsse die Leute wieder fromm machen, damit sich sowas nicht durchsetzt in unserer Gesellschaft. Und er hat die Abgeordneten als Kommunisten beschimpft.


Das Wort war also damals schon ein Schimpfwort. Dabei war doch das kommunistische Manifest von Marx und Engels grade erst erschienen!

Ja, das wurde zu derselben Zeit verfasst. Aber das Rezept der gutbürgerlichen evangelischen Kirche gegen soziale Forderungen war: Werdet fromm, Freiheit gibt es nur in Gott und nicht hier auf Erden.


Wir verbinden heute mit Wichern die Anfänge der kirchlichen Sozialarbeit, der Diakonie. Damit war also ursprünglich gemeint: Macht keine Revolution, dafür geben wir euch ein bisschen was zu essen?

Genau, das war das Konzept, um die Leute zu beruhigen. Natürlich ging es durchaus auch um Hilfe, aber eben im missionarischen Sinne: Ich helfe den Armen und versuche, sie wieder in die Kirche reinzuziehen oder zum richtigen Glauben zu bringen. Die Innere Mission ist lange sehr konservativ gewesen. Man sah die Armen, die Behinderten nicht als gleichwertigen Menschen, sondern als einen, dem die Hilfe übergestülpt wird, ja, und von dem aber auch erwartet wird, dass er dann sich fromm verhält.


Wie stand die Frankfurter lutherische Gemeinde zur sozialen oder diakonischen Frage?

Um 1848 hatte Frankfurt ungefähr 60.000 Einwohner, davon waren mehr als drei Viertel Lutheraner. Die Gemeinde lebte in Gottesdiensten und Amtshandlungen. So etwas wie diakonische Arbeit gab es damals noch nicht, das hätte die Pfarrer auch arbeitsmäßig überfordert. Aber es gab Leute, die sowas wollten, und die haben dann Vereine gegründet.


Unter anderem einen Verein für Innere Mission, oder?

Ja, es war nicht der erste, aber im Gefolge von Wichern wurde auch in Frankfurt ein Verein für Innere Mission gegründet. Der konnte bereits aufbauen auf einem Jungmännerverein, das war die Zielgruppe, die man damals in den Blick nahm, also junge Männer, die alleinstehend als Arbeitskräfte in die Großstadt kamen. Die jungen Frauen kamen erst in den sechziger Jahren in den Blick. Das hängt damit zusammen, dass Frankfurt dann expandierte und von außen Arbeitskräfte zuzogen, darunter viele Hausmädchen, die aus der Fuldaer Gegend kamen und überwiegend katholisch waren. Man hat die katholische Kirche damals auch als Hausmädchenkirche bezeichnet.


Das heißt, das soziale christliche Engagement spielte sich nicht in der Kirchengemeinde ab, sondern in selbstständigen Vereinen.

Genau. Alle, die für Kirche sozial oder bildungsmäßig aktiv werden wollten, hatten Vereine gegründet: die Bibelgesellschaft, die Missionsgesellschaft, den Jungmännerverein. Dort haben sie sich ausgetobt. Nach 1850 kamen dann noch weitere dazu, auch das Diakonissenhaus wurde in den sechziger Jahren gegründet. All das, was Wichern als „Innere Mission“ definiert hat. Den Begriff „Diakonisches Werk“ gibt es hingegen erst seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts.


Wenn wir nochmal zurückkommen zur Frage, wie die Nationalversammlung und ihr Verlauf in der Frankfurter Kirche aufgenommen wurde, was haben Sie da noch herausgefunden?

Es gibt sechs bis acht Predigen, die erhalten sind. Zum Beispiel hatte die Nationalversammlung im August 1848 einen Reichsverweser eingesetzt, sozusagen als Oberhaupt dieses gedachten neuen Staates, und sich dafür einen österreichischen Erzherzog geholt, einen alten Mann. Der wurde in einer Predigt begeistert begrüßt, so etwa: Jetzt haben wir einen weisen Greis, der uns hoffentlich führt.


Das klingt jetzt nicht allzu revolutionär.

Nein, es war aber lobend gemeint: Gegenüber diesen ganzen verrückten Jungspunden, sage ich jetzt mal, kommt da nun eine gestandene Persönlichkeit mit Renommée. Die Hoffnung war: Der wird dann auch ein bisschen Ordnung reinbringen, und dann läuft das alles gesitteter ab.


Irgendwie erinnert mich das an das Klischee von evangelischer Kirche: Einerseits finden wir Protest ja gut, andererseits darf es aber nicht zu radikal werden.

Religiöse Gemeinschaften sind immer konservativ. Und je größer eine Institution ist, desto schwerfälliger ist sie dabei, Veränderungen aufzunehmen. Wenn man bedenkt, dass sich die lutherische Gemeinde in Frankfurt im Zusammenhang mit dem Paulskirchendenken sogar eine neue Ordnung geben wollte, dann ist das schon fortschrittlich. Schneller kann man als Institution eigentlich nicht dabei sein. Für einzelne ist es leicht, radikale Vorschläge zu machen, aber als Institution? Letztlich war selbst Wichern ein Revolutionär, denn er hat ja seine Kirche vom Kopf auf die Beine gestellt.


Welches Vermächtnis der Paulskirchenversammlung bleibt uns?

Zum einen: Die Paulskirchenversammung ist gescheitert. Das sollten wir vor Augen haben, wenn wir in die weite Welt schauen, wo wir gerne möchten, dass Staaten Demokratien werden. Wir haben am eigenen Leib erfahren, wie schwer das ist. In Deutschland sind wir erst seit siebzig Jahren eine Demokratie, und auch als Kirche genießen wir erst seit siebzig Jahren weitgehende Unabhängigkeit. Noch in der Weimarer Republik gab es Aufsichtsrechte des Preußischen Staats gegenüber den Kirchen. Dann kam das Dritte Reich. Das muss man sich immer wieder klarmachen. Für mich ist das Vermächtnis der Paulskirche der Grundrechtskatalog. Wenn die damals von Freiheit geredet haben, dann wussten sie, was es heißt, nicht frei zu sein. Und noch etwas: Die Paulskirche war ein Debattierclub. Aber in der Pauskirchenversammlung musste man Koalitionen bilden, um etwas durchzubringen. Und wenn ich mich heute in der anglo-amerikanischen Welt umschaue, dann sehe ich, was für ein großer Gewinn das ist, wenn man kein Zweiparteiensystem hat, wenn man nicht nur Persönlichkeitswahl hat. Auch das ist ein Vermächtnis der Pauskirchenversammlung. Das Politgeschäft ist mühsam, sehr, sehr mühsam. Die kleine Arbeit der Kompromisse und der Vermittlungen und der Versuch, Verständigungen herbeizuführen, auch wenn die Interessen gegensätzlich sind.


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Antje Schrupp 227 Artikel

Dr. Antje Schrupp ist Chefredakteurin des EFO-Magazins. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com Mastodon: @antjeschrupp@kirche.social