Politik & Welt

Der Krieg in der Ukraine ist keine „Zeitenwende“

Dass der Angriff Russlands auf die Ukraine eine „Zeitenwende“ gewesen sein soll, wurde jetzt auch noch zum „Wort des Jahres“ gemacht. Dabei ist es nur eine bequeme Ausrede.

Dr. Antje Schrupp ist Chefredakteurin des EFO-Magazins.
Dr. Antje Schrupp ist Chefredakteurin des EFO-Magazins.

Zeitenwende – ein großes Wort. Bundeskanzler Olaf Scholz verwendete es nach Russlands Angriff auf die Ukraine vor einem Jahr. Bei der Bekanntgabe seiner Entscheidung im Januar, jetzt auch schwere Kampfpanzer zu schicken, verwendete er es erneut. Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) in Wiesbaden findet den Begriff so treffend, dass sie „Zeitenwende“ zum Wort des Jahres 2022 kürte.

Dass der Begriff eigentlich für den Beginn der christlichen Zeitrechnung steht – deshalb rechnen wir Jahresangaben mit „vor“ beziehungsweise „nach Christus“ – ist der GfdS bekannt; sie weist in ihrer Jurybegründung darauf hin. Doch wenn man beides vergleicht, wird deutlich, dass die Zeitenwende von Christi Geburt von ganz anderem Kaliber ist.

Olaf Scholz benutzte den Begriff erstmals in seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022, also gerade mal drei Tage nach dem russischen Angriff. Jesu Geburt hingegen wurde erst im Jahr 525 zur Datumsgrenze – gut fünf Jahrhunderte später. Echte Zeitenwenden erkennt man nur im Rückblick. Im Moment des Ereignisses selbst lässt sich noch nicht vorhersagen, wie prägend es einmal für die Welt sein wird.

Als der Mönch Dionysius Exiguus die Zeitrechnung „Anno Domini“ vorschlug, wollte er deutlich machen, dass eine ganz unscheinbare Begebenheit die Welt enorm verändert hatte. Olaf Scholz hingegen setzte mit der Begriffswahl ein bewusstes „Framing“, also einen kommunikativen Rahmen, innerhalb dessen ein Thema diskutiert werden soll. Schließlich warb er für eine Abkehr von bisherigen Prinzipien deutscher Außenpolitik: keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern oder nicht allzu viel Geld für den Militäretat auszugeben. Die „Zeitenwende“ liefert für so ein Vorhaben ein prima Argument. Andere Zeiten erfordern eben auch eine andere Politik. Die Bundesregierung ist auf dieses Framing so stolz, dass sie sogar eine Broschüre mit des Bundeskanzlers „Reden zur Zeitenwende“ herausgab.

Und es ist auch wirklich schlau. Denn ohne „Zeitenwende“ müssten Scholz und Co. etwas anderes tun, nämlich zugeben, dass sie vorher falsch gelegen haben. Dass das Geschäftemachen mit Russland und die große Toleranz gegenüber Putins imperialistischen Ambitionen Fehler waren.

Auch dafür gibt es ein christliches Konzept, es heißt „Umkehr“. Umkehr bedeutet die Einsicht, Fehler gemacht zu haben, die Reue darüber und den Entschluss, es nun anders zu machen. Die Rede von einer angeblichen „Zeitenwende“ dient dazu, die Notwendigkeit einer Umkehr zu leugnen. Das ist bequem, aber es betrifft nicht nur Politiker:innen. Das „Wort des Jahres“ hebt ja Begriffe hervor, die die öffentliche Diskussion bestimmt haben. Insofern können wir uns alle schön selbst an die Nase fassen.


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Antje Schrupp 227 Artikel

Dr. Antje Schrupp ist Chefredakteurin des EFO-Magazins. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com Mastodon: @antjeschrupp@kirche.social

1 Kommentar

17. Februar 2023 13:30 Nicole Lauterwald

Danke für den Artikel. Für mich begann die Zeitenwende im 21. Jahrhundert schon mit dem Beginn der Multikrise 2020. Die Umkehr und das vermehrte Hören auf die göttlichen Wahrheiten in oder auch außerhalb der Religionsgemeinschaften wird mit diesem Jahr für die Menschheit lebensnotwendig und hautnah spürbar.

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