Hungrig in der Schule
Es ist halb zwei mittags. Würziger Essenduft liegt in der Luft. Am großen runden Tisch im Sossenheimer Jugendhaus sitzen zwanzig Kinder zwischen zehn und vierzehn Jahren, und langen kräftig zu.
Meral Kilic hat heute Lasagne zubereitet. Sie blickt von der Küchentheke auf ihre Schützlinge. „Danke für das Essen, das war sehr lecker“, sagt ein etwa Zwölfjähriger und stellt seinen leeren Teller zurück auf den Tresen. „Guck, ich habe auch Salat gegessen“, ruft ein Mädchen mit einer grauen Wollmütze herüber, als sie ihren Teller bringt. Sie war es, die sich die Lasagne gewünscht hatte, erzählt die Sozialarbeiterin – das Mittagessen werde gemeinsam mit den Kindern geplant.
Der „Pädagogische Mittagstisch“ im Jugendhaus Sossenheim, das zum Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit gehört, wird von der Stadt Frankfurt finanziert. Jeden Werktag ab 13 Uhr gibt es das Mittagessen, erläutert Jugendhausleiter Thomas Reiter. Obwohl der Raum voller Kinder und Jugendlichen ist, kann man sich gut unterhalten. Die Tischrunde wirkt vertraut und angenehm familiär, während die Kinder plaudern, scherzen und Pläne für den Nachmittag machen.
Doch bevor am Nachmittag gespielt, gewerkelt oder gechillt wird, sei Hausaufgabenzeit, erklärt Reiter. Das sei Bestandteil des Angebots. Manche Kinder allerdings kämen auch nur zum Essen ins Jugendhaus und gingen dann wieder. „Das ist okay so!“
Der Schuh drückt den Pädagogen woanders: 16 Mittagessen habe die Stadt Frankfurt genehmigt und finanziert, aber der tatsächliche tägliche Bedarf sei inzwischen viel höher. „Wir könnten jeden Tag locker auch 30 Essen rausgeben.“ Weil das Jugendhaus über eine eigene Küche verfügt und das Essen jeden Tag frisch kocht, könne man durch sparsamen Einkauf das Budget etwas strecken, damit es 20 bis 24 Portionen werden. Aber viele Kids fragten in letzter Zeit vermehrt nach einer zweiten oder dritten Portion, erzählt Reiter, und das sei oft nicht drin. Neben Mineralwasserflaschen und Gläsern steht auf der Küchentheke auch eine Schale mit Trauben, Bananen und Äpfeln – wer möchte, kann sich zum Nachtisch selbst davon bedienen.
Thomas Reiter kennt seine Jugendhaus-Truppe gut. Auch die familiären Hintergründe der einzelnen Kinder sind ihm meist bekannt. „Für manche ist der Jugendhaus-Mittagstisch die einzige richtige Mahlzeit am Tag.“ Und es sind laut Reiter immer mehr Kinder und Jugendliche, die dieses Angebot wahrnehmen möchten. Viele Familien seien finanziell längst an ihren Grenzen und teils schon darüber hinaus.
Esther Kaiser verantwortet im Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit den Arbeitsbereich Jugendhilfe und Schule. Sie erzählt, wie sich kürzlich an der Josefine-Baker-Schule am Riedberg die Situation zuspitzte: Kinder kamen vermehrt hungrig und ohne Frühstück in die Schule; eine Brot-Dose der dort für Jugendsozialarbeit zuständigen Kollegin kam ungeklärt abhanden; Schüler:innen klagten, dass sie Hunger hätten, und fragten nach Essen. Manche berichteten den Sozialarbeiterinnen auch, dass zuhause kein Geld für Essen da sein.
Das alles sei ein Novum, sagt Kaiser. Noch nie sei in der schulischen Sozialarbeit Hunger ein Thema gewesen. Schulsozialarbeit in Deutschland soll bei sozialen Problemen beraten, Suchtprävention betreiben, Kindern und Jugendlichen bei der Berufsplanung helfen. Dafür zu sorgen, dass sie etwas zu essen bekommen, gehört nicht offiziell zu ihren Aufgaben. Entsprechend gibt es dafür auch kein Budget. Dass der Evangelische Verein für Jugendsozialarbeit dieses Jahr trotzdem an acht Schulen in Frankfurt und Offenbach Frühstück für jeweils bis zu 20 Schüler:innen anbieten kann – ungesüßtes Müsli, Milch und Obst – ist einer Spende der Adolf-Christ-Stiftung zu verdanken. Ob es damit nächstes Jahr weitergehen kann, ist offen.
„Die Grundversorgung mancher Kindern ist nicht mehr gesichert“, bringt es Miriam Walter, die Leiterin des Evangelischen Vereins für Jugendsozialarbeit, auf den Punkt. Die Krisen der vergangenen Jahre hätten die finanzielle Situation vieler Menschen stark belastet, und insbesondere die hohen Lebensmittelpreise brächten Familien mit geringem Einkommen oder mehreren Kindern in eine extrem schwierige Situation. Allein in den Einrichtungen in evangelischer Trägerschaft seien rund 400 Kinder und Jugendliche akut betroffen, schätzt Walter.
„Die Situation ist unerträglich“, bestätigt auch Markus Eisele, Diakoniepfarrer und theologischer Geschäftsführer im Evangelischen Regionalverband Frankfurt und Offenbach. „Kinderarmut schneidet Kinder mit Potenzial von ihrer Zukunft ab. Das dürfen wir als Gesellschaft nicht hinnehmen.“
Eisele fordert von der Bundesregierung ein klares Bekenntnis für eine Kindergrundsicherung, „die ihren Namen auch verdient.“ Bei den derzeitigen Regelungen sei für viele Familien unklar, welche Leistungen ihnen bei verschiedenen Behörden überhaupt zustehen. Viele würden ihre Ansprüche daher gar nicht geltend machen. Eine Kindergrundsicherung hingegen würde die Leistungen bündeln: „Wer zu wenig hat, bekommt problemlos und direkt, was nötig ist.“ Zusätzlich zur finanziellen Unterstützung armer Familien müssen laut Eisele gute Angebote für Kinder kommen, die sie unkompliziert in Anspruch nehmen können: Ganztagsbetreuung, Freizeitangebote, Schulmittagessen.
Vor allem Essensangebote sollten kostenlos sein, sagen viele Fachleute, denn derzeit seien die Hürden für einige Eltern schlicht zu hoch. Bei digitalen Buchungssystemen für schulische Mittagessen müssen sie sich mit zig unterschiedlichen Tarifvarianten und Bezuschussungsmöglichkeiten auseinandersetzen. Auch das Mittagessen im Sossenheimer Jugendhaus hat bis vor kurzem noch einen Euro gekostet, aber angesichts der akuten Not in vielen Familien übernimmt in diesem Jahr das Jugend- und Sozialamt die Eigenbeteiligung. Vorläufig ist der „Pädagogische Mittagstisch“ also kostenfrei, den es nicht nur in Sossenheim gibt, sondern auch noch in vier anderen vom Evangelischen Verein betriebenen Jugendhäusern in Frankfurt.
Doch für das drängende Thema der Kinderarmut braucht es nicht nur einzelne Maßnahmen hier und da, sondern eine politische Koordination. Auf Initiative von Diakoniepfarrer Eisele findet deshalb im Herbst eine Armutskonferenz für die Region statt, bei der Akteure aus Wohlfahrt, Stadt, Gesellschaft und Politik übergreifende Lösungen für die bedrückenden Probleme entwickeln werden können.
Unterdessen bemühen sich die Sozialarbeiter:innen vor Ort, möglichst vielen Kindern und Jugendlichen zu helfen. „Wir würden gerne weitere Angebote machen, auch in Projekten der Schulsozialarbeit, um der offenkundigen Not begegnen zu können und einen Schultag ohne Hunger zu ermöglichen“, sagt Miriam Walter. Aber dafür braucht sie Ressourcen und vor allem Geld – sei es von der Politik oder von privaten Spender:innen.
Spenden sind möglich an den Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit, IBAN DE77 3702 0500 0008 6300 00.
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