Politik & Welt

Freie Aussicht versus Gemeinwohl? Frankfurt braucht 90.000 neue Wohnungen

Eine bezahlbare Wohnung zu finden wird im Rhein-Main-Gebiet mehr und mehr zum Ding der Unmöglichkeit. Nicht nur für Menschen mit wenig Geld - selbst für Haushalte mit mittleren Einkommen. Was tun?

Straßenzeile am Riedberg. Frankfurt braucht noch viel mehr neue Wohngebiete, um dem Bedarf an Wohnungen gerecht zu werden.  |  Foto: Stefanie L./Flickr.com (cc by-nc-sa)
Straßenzeile am Riedberg. Frankfurt braucht noch viel mehr neue Wohngebiete, um dem Bedarf an Wohnungen gerecht zu werden. | Foto: Stefanie L./Flickr.com (cc by-nc-sa)

In Großstädten wie London oder Paris ist es bereits normal, dass die Kosten fürs Wohnen 50 Prozent vom Nettoeinkommen ausmachen. Auf diese Marke bewegen auch wir in Deutschland uns zu, warnt Matthias Günther vom Eduard Pestel Institut für Systemforschung: „Viele denken, die Preise können nicht weiter steigen bei uns. Aber diese Annahme ist falsch.“

Günther war auf dem diesjährigen Diakonie-Forum einer der Experten, die in Frankfurt „konstruktive Ansätze gegen Wohnungsknappheit im Rhein-Main-Gebiet“ diskutierten. Das Szenario dieser Verknappung klingt düster: 37.000 neue Wohnungen müssten jedes Jahr in Hessen entstehen, um den steigenden Bedarf zu decken. Tatsächlich werden aber nur 17.000 gebaut. Jährlich summieren sich somit zum ohnehin schon bestehenden Defizit von rund 70.000 Wohnungen noch 20.000 hinzu.

„Wir haben in den letzten Jahren einfach deutlich zu wenig gebaut“, konstatiert Günther. Die Bevölkerungsentwicklung, wie sie jetzt eingetreten ist, habe noch vor zehn Jahren niemand absehen können. Vor allem in die Städte drängten immer mehr Menschen – von jungen Familien bis zur immens gewachsenen Gruppe von Studentinnen und Studenten – und erhöhen so den Druck auf den Wohnungsmarkt. „Es gibt keine Anzeichen für eine schwindende Attraktivität der Städte. Nun werden die einkommensschwachen Haushalte an die Ränder des S-Bahn-Systems gedrängt“, beobachtet der Wohnraumforscher.

In einem Punkt waren sich alle einig: Die derzeitigen politischen Maßnahmen für mehr Gerechtigkeit auf dem Wohnungsmarkt sind unzureichend. Der Anteil an Sozialwohnungen hat sich in Hessen von ehemals über 200.000 auf heute nur noch 100.000 halbiert. Und von den rekordverdächtigen Steuereinnahmen von insgesamt 65 Milliarden Euro, die der Bund derzeit rund um das Thema Wohnen laut Günther einnimmt, fließen lediglich 5 Milliarden in die Wohnbauförderung zurück: „Das ist schon ein bisschen dünne“, so der Experte.

Die anwesende Staatsekretärin Beatrix Tappeser versicherte indes, das hessische Umweltministerium habe die Bedeutung des Themas erkannt und im neuen „Masterplan Wohnen“ berücksichtigt. So wolle man finanzielle Anreize für private Investoren schaffen, damit diese sich mehr als bisher und mit möglichst langen Bindungszeiten im sozialen Wohnungsbau engagierten. Außerdem sei die Landesregierung bereit, eigene Grundstücke günstiger abzugeben, wenn darauf sozialer Wohnungsbau stattfinden soll.

Axel Tausendpfund vom Verband der südwestdeutschen Wohnungswirtschaft plädiert für mehr Nachverdichtung, wenn dies auch nur eine von mehreren notwendigen Stellschrauben sei. Beides sei notwendig: bestehende Gebäude innerhalb der Stadt aufzustocken, als auch Neubaugebiete auf der grünen Wiese ausweisen. „Das wird sicher nicht konfliktfrei abgehen. Aber es das Individualinteresse an einer freien Aussicht darf sich nicht durchsetzen darf gegenüber dem Recht aller auf ausreichend Wohnraum.“

Martin Hunscher vom Stadtplanungsamt Frankfurt dämpft die Erwartungen, alleine durch Nachverdichtung könne man die Probleme lösen: Nach seinen Berechnungen liege deren Potential in Frankfurt zwischen 6000 und 12.000 Wohneinheiten. Die Stadt brauche aber 90.000 zusätzliche Wohnungen bis zum Jahr 2030. „Die Zeiten der Innenentwicklung und Nachverdichtung sind vorbei. Wir müssen auf die grüne Wiese, damit die Mieten nicht explodieren.“

Das Grundproblem ist nach Hunschers Ansicht aber die fehlende Baufläche: „Die Ressource Boden ist nun mal endlich, ganz schlicht und einfach. Und sie fehlt uns überall.“ Woher also Boden zaubern? Hier kam unter anderem die Idee ins Spiel, den Grundbesitz der Kirche zu nutzen, um soziale Ziele zu verfolgen.

Stefan Gillich, Referent für Wohnungsnotfallhilfe bei der Diakonie Hessen, plädierte für diese so genannte „Konzeptvergabe“: „Viele Kirchengemeinden haben gar keine Idee, was sie mit ihrem Grund und Boden anfangen sollen. Natürlich können sie den meistbietend verkaufen und den Gewinn in die Entwicklung ihrer eigenen Gemeinde stecken. Aber sie können auch etwas fürs Gemeinwohl damit leisten – und dazu wollen wir anregen.“ Beispielsweise, indem das Grundstück eines ehemaligen Gemeindesaales günstig an ein Bau-Konzept abgegeben wird, das am Wohnungsmarkt benachteiligte Gruppen zum Zuge kommen lässt.

Derzeit sind in Deutschland 1,2 Millionen Menschen ohne Obdach, rechnet Gillich vor. „Wir haben bestimmte Menschengruppen, die kommen an Wohnungen gar nicht mehr ran.“ Deren Gefühl von Verlassenheit und Resignation könne nur nachvollziehen, wer ihre Situation einmal erlebt habe: „In einer Masse von 50 anderen Interessenten durch eine Wohnungsbesichtigung geschleust zu werden und zu wissen: Ich habe hier nicht den Hauch einer Chance.“


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Heike Baier 5 Artikel

Heike Baier zog vor 20 Jahren aus Südbaden nach Frankfurt und hat es nie bereut. Als freie Journalistin schreibt sie über Themen aus Psychologie, Bildung, Architektur und Nachhaltigkeit.

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